Der Blumenkrieg
einzigen weißen Wirbel, die Theo in dem ganzen schleichenden Fluß erkennen konnte. Ein paar Überreste standen noch auf der Brücke, aber nur ein Turm hatte seine meisten Steine behalten. Er erhob sich an einem Ende des weiten Brückenbogens wie ein einzelner Zahn im Mund einer Puppenhexe. An den beiden schlammigen Ufern lagen weitere Massen heruntergefallener Steine im Morast und sahen so sehr wie die Kothaufen eines kolossalen Tieres aus, daß Theo sich wünschte, er hätte niemals an Riesen gedacht.
»Diese Brücke bewachte früher den Fluß, als der noch die verwundbarste und wichtigste Ader der Stadt war«, erklärte Wuschel. »Als der Fluß noch von Bedeutung war.«
»Ich sehe niemanden in der Nähe.«
»Vielleicht sind sie vertrieben worden.« Wuschel hörte sich an, als wäre er darüber nicht annähernd so traurig wie Theo.
»Nein, warte! Da oben bewegen sich Leute.« Theo schirmte die Augen ab. »Nicht sehr viele. Ich glaube, sie haben uns auch gesehen.« Ob dem so war oder nicht, im nächsten Augenblick waren die fernen Gestalten von den bröckelnden Befestigungen der Brücke verschwunden, und die Landschaft sah wieder gänzlich leblos aus.
Sie brauchten noch einmal eine Viertelstunde, um dem Verlauf des Flusses bis zum Fuß der Brücke zu folgen. Der Raum darunter war von Unrat, Holzstücken, Steinhaufen verstopft – Theo konnte kaum Wasser ausmachen und staunte, daß der Fluß Lücken fand, durch die er zum Ys fließen konnte. Von nahem staunte er noch mehr darüber, wie groß das altertümliche Bauwerk war, etliche hundert Meter von einem Ufer zum anderen. Sein einer erhalten gebliebener Turm war fast halb so hoch, wie die Narzissen-Residenz gewesen war. Er blickte immer noch beeindruckt daran hinauf und fragte sich, wie viele sorgfältig behauene Steinquader wohl für das Riesending verbaut worden waren, als ein scharfer Zuruf sie anhalten ließ.
»Keine Bewegung!« Sie konnten den unsichtbaren Wachposten über den Wind hinweg kaum hören, der durch das kaputte Mauerwerk pfiff. »Es sind mehrere Gewehre auf euch gerichtet.«
Theo und Wuschel blieben ganz still stehen und warteten auf den drahtigen kleinen Kerl, der von einem der eingestürzten Türme heruntergeklettert kam. Es war ein Goblin, trotz des Windes nur mit Lendenschurz und Weste bekleidet. Zuerst dachte Theo, er könnte derjenige sein, der ihm den Zettel gegeben hatte, doch dann sah er, daß dieser kleiner und älter war und um den breiten Mund herum einen struppigen weißen Backenbart hatte. Dennoch waren seine Bewegungen sicher: Er sprang von Stein zu Stein nach unten bis zu den unteren Befestigungen, dann kraxelte er die Außenmauer an einem Seil hinunter, das Theo nicht einmal bemerkt hatte, und trat auf sie zu.
»Was wollt ihr?« Der Goblin wirkte eher ungehalten als nervös, obwohl sogar Wuschel fast einen Kopf größer war als er. Vielleicht sind ja wirklich Gewehre auf uns gerichtet, dachte Theo. Es war eine deprimierende Vorstellung. Er war zu müde, um einer Bananenschnecke zu entkommen, ganz zu schweigen von magischen Metallhornissen. Er setzte an, in seine Tasche zu fassen, da fielen ihm die vielen Fernsehsendungen mit Polizeikontrollen und Geiselnahmen ein, die er im Leben gesehen hatte.
»Ich habe einen Zettel«, sagte er langsam und deutlich. »Ein Goblin hat ihn mir gegeben und mich eingeladen, hierher zu kommen. Ich werde ihn jetzt aus meiner Tasche ziehen.«
Den weißbärtigen Goblin beeindruckte das keineswegs. »Dann zeige mir diesen Zettel, oder ihr werdet gewaltig eins übergebraten bekommen.«
»Nette Leute hier«, murmelte Theo still vor sich hin. Er faßte in sein sackiges Elfenhemd und bekam erst einmal einen furchtbaren Schreck, doch dann fand er den Zettel zusammengeknüllt ganz unten in der Tasche.
Der Goblin betrachtete ihn prüfend und hielt ihn gegen den westlichen Himmel hoch, als suchte er nach einem Wasserzeichen. Seine Augen wurden rund, und seine fingerlange Nase zitterte. Er blickte Theo und Wuschel geradezu verwundert an, und ein paar unschöne Sekunden lang dachte Theo, sie würden jetzt beide erschossen.
»Folgt mir, liebe Freunde«, sagte der Goblin. Er verbeugte sich sogar, bevor er sich umdrehte und ihnen zum Fuß der Brücke vorausging.
»Bei den Bäumen, sieh dir das an!« Wuschel war stehengeblieben, um sich über den Brückenrand zu beugen. Theo, der sich verstohlen nach den verborgenen Schützen umgeschaut hatte, mit denen ihnen gedroht worden war, vergewisserte sich, daß ihr
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