Der Blumenkrieg
Symbole noch kryptischer und abstrakter waren, als er es von zu Hause gewohnt war, mußte er an Anna denken, ein Mädchen, mit dem er Ende der achtziger Jahre eine Zeitlang zusammengewesen war. Sie hatte sich als eine Wicca-Hexe bezeichnet, auch wenn ihre Version, soweit Theo sehen konnte, größtenteils frei erfunden war. Sie fluchte oder dankte niemals im Namen »Gottes«, sondern immer »der Göttin«, und sie war von einer tiefen, ehrfürchtigen Liebe zu Drachen, Einhörnern und Elfen erfüllt. Theo hatte sie im Grunde leicht plemplem gefunden, doch ihre lose Beziehung, deren Hauptinhalt gemeinsame lange Tage unter Annas selbstgenähter Steppdecke in ihrer winzigen Wohnung gewesen waren, hatte ein knappes Jahr gehalten und war für ihn in einer schlaffen Phase seines Lebens eine Art Asyl gewesen. Er hatte schon lange nicht mehr an Anna gedacht, jetzt aber erinnerte er sich an ihre salbungsvollen Ausführungen über das Tun und Lassen der Elfen mit einer gewissen zynischen Belustigung, aber auch einem leisen Bedauern.
Eher gut, daß Anna sich nie hierher verirrt hat, dachte er und beobachtete derweil eine kleine Hausfrau auf ihrem Balkon dabei, wie sie Kinderkleidung in solchen Massen von der Leine nahm, daß er fast geschworen hätte, sie verdiente sich ihren kärglichen Lebensunterhalt mit Waschen. So sieht das Land wirklich aus, über das sie soviel geredet hat. »Von dort kommt alle Magie«, hat sie immer gesagt. »Sie leben von unseren Träumen.« Und sie hat damit recht gehabt – wer hätte das gedacht? Aber sie hatte es sich ein klein wenig anders vorgestellt. Ihm fiel wieder ein, was der inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilende Fürst Stockrose über Nieswurz’ Plan gesagt hatte, über das sogenannte »Schreckliche Kind«. Und bald wird es hier noch abscheulicher werden. Sie werden von unseren Träumen leben wie Blutegel von Blut, mit dem Unterschied, daß Blutegel nicht die ganze Gesellschaft ihrer Opfer zerstören müssen.
»Du siehst furchtbar aus, Kollege«, bemerkte Wuschel. »Keine Sorge, wir werden die Stadt bald hinter uns haben und im Fenn sein.«
»Das ist es nicht. Ich … ich habe nur gerade daran gedacht, wie die Leute – meine Leute, meine ich, oder wenigstens die Leute, zu denen ich zu gehören meinte …« Er hatte sich selbst durcheinandergebracht und stockte. »Daran, daß so viele Geschichten der Menschen vom Elfenland handeln. Gedichte, Lieder. Und ob sie dieses Land nun für wunderbar oder für unheimlich halten, sie stellen es sich immer … schön vor. Magisch. Schrecklich, aber märchenhaft. Und zum Teil ist es das auch. Aber vieles ist auch … wie das hier.«
Wuschel nickte bedächtig. »Wenn du das schon deprimierend findest, dann überlege mal, wie es jemandem wie mir gehen muß. Ich lebe hier.«
Sanft aber gründlich zum Schweigen gebracht, ging Theo weiter.
Sie verzehrten das letzte Stück Brot in einem Bezirk, der noch abstoßender war als der, den sie vorher durchquert hatten, eine ausgedehnte Barackensiedlung, die aussah, als wäre sie ganz aus weißem Sperrholz gebaut. Es war in jeder Hinsicht eine unwirtliche Gegend, aber die Bewohner, die in den Türen oder auf den niedrigen Dächern ihrer Bruchbuden standen und sie beobachteten, ein Haufen schmutziger, kränklicher Elfen von normaler Größe neben Brownies, Gnomen und argwöhnisch blickenden Pucken, wirkten viel zu ausgemergelt, um eine reale Bedrohung darzustellen. Dennoch hielt Theo bei ihrem Gang durch die schmalen, gewundenen Gassen die Augen nach elfischen Straßenräubern offen.
Sie wollten gerade eine vergleichsweise große Straße überqueren, wo die Baracken immerhin sechs, acht Schritt auseinanderstanden und Reifenspuren die schlammige Fahrbahn zerfurchten, als Wuschel plötzlich Theo am Arm packte und ihn in den Schatten eines Hauseingangs stieß. Gleich darauf rollte ein merkwürdiges offenes Fahrzeug vorbei, das am ehesten einem Jeep glich, aber in Form und Details Unterschiede aufwies, bei denen einem menschlichen Autohersteller himmelangst geworden wäre. Ein halbes Dutzend Schutzleute mit schweren Jacken und Helmen saßen darauf, allesamt mit Bienenstockgewehren bewaffnet und mit dem abstrakten Blumenzeichen auf den Uniformen, das, wie Wuschel ihm erklärt hatte, das Parlamentsemblem war. Eine Horde Kinder von bestimmt zehn verschiedenen Elfenarten, darunter auch kleine Goblins, rannte hinterher und bettelte um Essen und Geld. Die grimmig dreinblickenden Elfen auf dem Jeep beachteten
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