Der Blumenkrieg
man unbedingt wieder abschütteln, sonst nahm man darin sein Lebtag nichts anderes wahr als eine Abart des Bekannten. Theo hörte jetzt genau hin, fühlte den Beat, aber begriff auch, daß die Goblinmusik alles mögliche andere, wonach sie beim ersten Hören ein wenig geklungen hatte, nicht war: Sie war keine arabische Musik, keine indische, keine fernöstliche. Sie hatte zu viele ungespielte Elemente, um eine davon zu sein. Falls er überhaupt etwas kannte, das ihr nahekam, dann war es Qawwali, die gottestrunkene Sufimusik, die er eine Zeitlang gewissermaßen aus Protest gehört hatte, als alle seine Freunde plötzlich die afrikanische Musik entdeckten und ihm von King Sunny Ade und Ladysmith Black Mambazo vorschwärmten. Klar waren die auch gut, aber er wollte einfach nicht als letzter auf den Zug aufspringen, egal auf welchen.
He, im Moment bin ich definitiv der letzte auf dem Goblinjazz-Zug, wenigstens in dieser Welt. Aber falls ich jemals wieder nach Hause komme, werde ich dort der erste Goblinjazzer weit und breit sein.
Er lächelte, die Augen weiter geschlossen, und nickte zu den Schlägen, die er jetzt deutlich hörte, auch wenn sie gar nicht gespielt wurden. Das bin ich, wenn alles andere von mir abfällt, erkannte er. Ich verdiene vielleicht kein Geld damit, aber ich bin ein Musiker. Ich bin ein Sänger.
Zeit verging – fünf Minuten, eine halbe Stunde, er wußte es nicht. Die Tänzer, vor allem die Frauen, waren anfangs vor ihm zurückgescheut, jetzt aber war es, als bemerkten sie ihn nicht mehr: Er war mit ihnen in die Musik eingetaucht und stach nicht mehr hervor. Er hörte Dinge, die er vorher, als er gerade in der Sackgasse angekommen war, noch nicht hatte hören können, sein Hirn begann die größeren musikalischen Einheiten auszumachen, von denen einige Minuten zu dauern schienen, bevor sie wiederholt wurden. Die Musiker brachen in gelegentliche Vokalisen aus, gellende Rufe, die die Molltonleiter hinaufsausten und auf einem Ton verhielten, aber nie länger als ein paar Sekunden. Ab und zu stimmte jemand aus der Menge ein, sang ein paar hastig hingebrabbelte, unbekannte Worte oder stieß sogar einen wortlosen Schrei aus, doch ansonsten fehlte der Part des Sängers in der Musik.
Eines aber war merkwürdig, nämlich daß es dennoch einen solchen Part zu geben schien oder wenigstens einen Platz für eine Art Instrumentalstimme, angelegt in der Struktur der Musik, wie er sie inzwischen verstand, und kommentiert von den Instrumenten und der Percussion wie etwas, das tatsächlich vernommen wurde. Manchmal wurde diese Lücke von den galoppierenden, beinahe kollidierenden Tönen der Musiker überspült und verschwand, dann wieder, vor allem wenn das Saitenspiel leiser wurde und das Trommeln zu einem zarten Schnurren der Finger auf den straffen Fellen abklang, klaffte die Lücke so unüberhörbar, daß Theo sie am liebsten geschlossen hätte. Er merkte, daß er im Wiegen mitsummte, halb vor sich hinsang und dabei versuchte, nicht einfach die gefühlte Leere mit etwas Selbsterfundenem zu füllen, einem Blues-Vamp oder einem Jazz-Scat, sondern etwas hervorzubringen, was da sein sollte.
Die Musik umgarnte ihn, unwiderstehlich wie eine Droge, endlos wie ein Halsband aus bunten Perlen, das ohne Unterlaß durch seine Finger lief. Irgend jemand füllte jetzt den freien Raum in der Musik aus, schwang sich über das schnarrende Saitenspiel hinweg, ließ sich wieder in das strukturierte Wirrwarr der Instrumente zurückfallen, tänzelte mit wortlos hingehauchten Stakkatotönen durch die leisen Passagen.
Als ihm aufging, daß er der Sänger war und daß er so laut war wie eines der Instrumente, hörte er erschrocken zu singen auf und öffnete die Augen. Die Tänzer in seiner unmittelbaren Nähe betrachteten ihn, doch sie tanzten weiter. Er schaute zu den Musikern auf, aber der einzige, der ihn ansah, war der langbärtige Goblin mit dem Saiteninstrument, der seinem Blick begegnete und ihm zunickte. Er lächelte nicht, aber er blickte auch nicht unfreundlich. Er nickte abermals und machte dann eine Kopfbewegung, die sehr so aussah, als sollte sie »mach weiter!« bedeuten. Zögernd fing Theo wieder an zu vokalisieren. Der Goblin lächelte immer noch nicht, aber er nickte noch einmal, schloß dann die Augen und ließ sich in den Strom der Musik zurücksinken.
Theo behielt die Augen beim Singen offen, wenigstens anfangs, doch obgleich ihn viele aus der Goblinschar mit Interesse und sogar einer gewissen Verwunderung
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