Der Blumenkrieg
wirklich so aus. Ja, viele von ihnen waren wahrscheinlich der Meinung, daß ein Gesichtsschnitt wie seiner, bei dem zwei Augen, zwei Nasenlöcher und ein Mund symmetrisch im Gesicht verteilt waren (und nur im Gesicht), äußerst befremdlich war. Doch da fast alle die Höflichkeit besaßen, diese Meinung für sich zu behalten, beschloß er, ihrem Beispiel zu folgen. Er nickte freundlich zwei alten Frauen mit Storchenbeinen zu, die ihre Krallenfüße in den Fluß baumeln ließen, und tätschelte dann lächelnd ein kleines Kind mit dem Kopf und dem Schwanz eines Fuchses. Er bemühte sich, auch dann noch weiterzulächeln, als das Kind ihm um ein Haar einen Finger abbiß und die Mutter – vielleicht aber auch der Vater – gestikulierend, bellend und schimpfend hinter ihm hergerannt kam.
Nach wenigen Metern schon war das besorgte elterliche Kläffen über den allgemeinen Radau lachender, schreiender und streitender Elfen hinweg kaum mehr zu hören. Das Lager war dermaßen von lärmendem Leben erfüllt, daß er sich bereits ziemlich weit von seinem Zelt entfernt hatte, als ihm plötzlich aufging, daß er schon geraume Zeit interessante Töne im Ohr hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Musik. Anfangs war es nur ein fernes Schnarren und Trommeln mit gelegentlichen Heultönen dazwischen, die sich nach singenden Stimmen anhörten, doch mit jedem Schritt wurde es lauter und differenzierter.
Er hatte mit der Essensfindung kein Glück gehabt (in seinem bargeldlosen Zustand hätte er, wie ihm schnell klargeworden war, Leute anbetteln müssen, die ganz offensichtlich kaum etwas erübrigen konnten), und so ließ er sich jetzt statt vom Magen von den Ohren durch das Lager leiten. Er folgte den exotischen Klängen, auch wenn er mehrmals einen falschen Weg nahm, der ihn entweder beinahe in die träge Mondflut beförderte oder an den matschigen Deich weiter oben oder auch mitten auf ein Privatgelände – besonders peinlich und geradezu traumatisch, wenn sich auf einem solchen Privatgelände gerade zwei Oger beim Liebesakt tummelten. Er hielt sich nicht lange dort auf, im Gegenteil, er nahm schleunigst Reißaus, aber er war sicher, daß der Anblick dieser orgiastisch kopulierenden runzligen grauen Fleischmassen ihn noch jahrelang in Albträumen verfolgen würde.
Die Musik zog ihn an, obwohl er dafür keinen anderen Grund angeben konnte, als daß es Musik war, einerlei wie schräg. Sie wäre nicht einmal in seinen eklektischsten Zeiten sein Geschmack gewesen, viel zu fremdartig, ein endloses Geleier, in dem sein ungeschultes Ohr nicht viel Abwechslung hören konnte, doch er hatte im Augenblick kein anderes Ziel. Elfenkinder beobachteten ihn, wie er vorbeiging, manche mit neugierigem Interesse, andere mit Augen, die von Hunger oder Krankheit abgestumpft waren. Kann ich die Krankheiten kriegen, die sie hier haben? fragte er sich. Jedenfalls bin ich todsicher nicht dagegen geimpft. Die plötzliche Sorge unterstrich nur, wie verloren er sich fühlte, wie fremd. Diese ganzen Leute, manche mit Flügeln, manche mit Eselsohren, manche so klein, daß er sie im Schein der Lagerfeuer kaum wahrnehmen konnte, waren Teil einer Welt, die von seiner grundverschieden war. Er hätte genausogut der erste Mensch auf dem Mars in einem alten Science-fiction-Buch sein können.
Kein Wunder, daß Eamonn Dowd darüber schreiben wollte, dachte er, während er einer Horde von Kindern mit schmutzigen Gesichtern und Flügeln bei einem kniffligen Spiel mit einem Stock und einem Rad – von einem Kinderwagen? – zuschaute. Es ist alles so anders. Es ist nicht einmal wie im Märchen. Man könnte hier sein ganzes Leben zubringen und würde doch nicht verstehen, wie alles funktioniert, was fraglos vorausgesetzt wird, welche Regeln gelten. Die jähe Erkenntnis, daß er unter Umständen tatsächlich sein ganzes Leben hier zubringen mußte, hatte ein heftiges Heimweh zur Folge. Was ich vermisse, sind nicht Cheeseburger und Fernsehen und solche Sachen, ich vermisse einen Ort, wo ich die Regeln kenne. Wo ich weiß, was jemand meint, wenn er etwas sagt, wo ich nicht immer raten muß.
Und jetzt kam zu seinem gewaltigen Unwissenheitsfundus noch ein weiteres quälendes Rätsel hinzu, das er lösen mußte: Was hat Eamonn Dowd getan, um diesen Primel so gegen sich aufbringen? Oder was meint Primel, daß er getan hat?
Die Musik war mittlerweile recht laut geworden. Theo bog in eine lange, schmale Passage zwischen zwei Zeltreihen ein und gelangte an das Ende einer
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