Der Blumenkrieg
das normale gedämpfte Licht eines warmen, abgedunkelten Wohnzimmers und ein einziger Gedanke, der in seinem Kopf nachhallte.
Tot. Sie sind alle tot.
Er legte den Kopf auf die Arme und wartete, bis er sich wieder als eine ungeteilte Person fühlte. Es war bloß so was wie ein Ohnmachtsanfall verbunden mit Depressionen. Natürlich waren nicht alle tot. Catherine war quicklebendig und hatte sogar schon einen anderen. Und Johnny – Scheiß an, Johnny war unsterblich.
Denk so was nicht mal! Sonst bringst du ihm noch Unglück, genau wie dem Kind …
Theo schob das Bier mitsamt dem schrecklichen Gedanken beiseite, doch als er sich wieder auf die Maklerunterlagen zu konzentrieren versuchte, war es so aussichtslos, als ob er die Maserung eines Stücks Holz zu entziffern versuchte. Kreditbedingungen, Feuerversicherung, Hausratversicherung, Rechtsmängelversicherung. Stundenlanges Steinebeißen. Aussichtslos, das zu schaffen, solange sein Kopf in diesem desolaten Zustand war. Er blickte auf die Schachtel mit den persönlichen Papieren seiner Mutter, sah den Rand eines Briefumschlags mit aufgeprägten blauen und gelben Blumen und zog ihn heraus.
Der Umschlag enthielt eine Geburtstagskarte mit dem kitschigen Bild eines Kätzchens, das mit einem Garnknäuel spielte, während die Katzenmutter wohlwollend zuschaute. Das Gedichtlein innendrin lautete:
Ach, glücklich, wer in deiner Hut
Zufrieden spielt, zufrieden ruht!
Du gibst mir Kraft, du gibst mir Mut,
Lieb Mütterlein, du bist so gut.
Darunter stand, hingekrakelt wie das Bekenntnis eines Attentäters:
Alles gute zum geburtstak alles Libe von Theo
Und wieder kamen die verdammten Tränen.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er ihr die Karte geschenkt hatte. Nach der Handschrift zu urteilen mußte er ungefähr sechs oder sieben gewesen sein. Es verwunderte ihn, daß sie das Ding aufgehoben hatte – seine Mutter, die Königin des unsentimentalen Pragmatismus. Was war da sonst noch drin?
Er nahm die Schachtel und leerte sie auf der Couch aus. Was herausfiel, waren zum größten Teil Sachen, wie er sie erwartet hatte, Versicherungspolicen, alte, vor langer Zeit schon ungültig gestempelte Sparbücher – warum zum Teufel hatte sie die nicht weggeschmissen? – und ein paar nicht ganz so profane Sachen wie zum Beispiel eine Anleitung zur Selbstuntersuchung der Brust, versteckt in einem kleinen braunen Umschlag, als ob es etwas Pornographisches wäre. Doch es fanden sich auch einige Briefe von seinem Vater an sie, von denen einer aus den fünfziger Jahren zu stammen schien, vor der Zeit ihrer Ehe, als Peter Vilmos auf den Philippinen stationiert war und sie noch in Chicago lebte. Jede Hoffnung, das lebenslustige, romantische jüngere Ich seines Vaters könnte darin zum Vorschein kommen – ein später in der Mühle des Alltagslebens zermahlenes Ich, an das Theo früher einmal gern geglaubt hätte, aber niemals so richtig hatte glauben können –, löste sich sofort in Luft auf, als er den Brief las.
Liebe Anna,
Nun sind wieder ein paar Wochen vergangen, da dachte ich, ich schreibe Dir mal, weil Du ja gesagt hast, Du willst, daß ich Dir schreibe. Das Leben ist mehr oder weniger immer dasselbe. Jenrette, der die Koje neben mir hat, schnarcht immer noch ohrenbetäubend. Das Essen ist ziemlich schlecht, aber wenigstens gibt es nicht viel! (Ein Witz) Ich hoffe, Dir und Deinen Eltern geht es gut und Dein Vater ist nicht mehr so von der Krankheit geplagt, daß er nicht arbeiten kann, wie Du geschrieben hast. Wir mußten hier neulich eine Vorratshütte bauen, und ich hatte das Kommando, und das war schwerer, als es sich anhört, weil es hier wirklich windig ist, eine »steife Brise« die meiste Zeit, und die Bleche ständig wegwehen wollen, und die sind ordentlich schwer! Aber wir haben die Hütte fertiggekriegt …
Es folgte noch eine Seite mit ähnlichen Belanglosigkeiten, und darunter stand nicht »Immer der Deine« oder »Dein Dich ewig liebender«, sondern »Mit freundlichen Grüßen«.
Ob sie wohl schon zusammen geschlafen hatten? fragte sich Theo. Eine heimliche Nacht oder zwei in einem Motel oder im Zimmer eines Kommilitonen, bevor er in See stach? Der Brief kam den Befürchtungen erschreckend nahe, die er in den schlimmsten Momenten über seinen Vater gehabt hatte: daß er tatsächlich ein Mann war, der unter einen Brief an eine Frau, die er nackt gesehen hatte, »Mit freundlichen Grüßen, Cpl. Peter Vilmos« schreiben konnte.
Seine
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