Der Blumenkrieg
Mutter hatte noch den einen oder anderen Brief von seinem Vater und ein paar Festtags- und Geburtstagskarten aufgehoben, aber der Alte war mit den Jahren kein größerer Casanova geworden, auch wenn er irgendwann wenigstens die »freundlichen Grüße« sein ließ und einige der späteren sogar mit »Alles Liebe, Pete« unterschrieb.
Ansonsten hatte sein Leben herzlich wenig Spuren hinterlassen. Weitere Geburtstagskarten von Theo, auffälligerweise aber keine mehr, nachdem er ungefähr zwölf war, ein paar Briefe von Verwandten und zu seiner Überraschung eine recht ansehnliche Zahl von Zeitungsausschnitten über seine Erfolge in jungen Jahren. Einer aus der Peninsula Times-Tribune war eine Besprechung der Highschool-Aufführung von »Schwere Jungen – leichte Mädchen«, und ein Absatz war mit einem Textmarker hervorgehoben:
»Die Schwierigkeiten, die einige der anderen Hauptdarsteller sowohl stimmlich als auch mit dem für Runyon typischen Ton hatten, waren bei Theodore Vilmos nicht zu beobachten, der in der Rolle von Sky Masterson, dem großen Spieler mit dem goldenen Herzen, Schwung und Energie und ein erstaunliches Stimmvolumen an den Tag legte. Der junge Vilmos beherrschte die Bühne souverän, und der Rezensent würde sich nicht wundern, wenn er ihn eines Tages in dieser Rolle und anderen am Broadway erleben dürfte …«
Sie hatte noch andere aufbewahrt, lobende Artikel aus der Lokalpresse über weitere Bühnenstücke und Chorkonzerte, bei denen er Soloauftritte gehabt hatte, und sogar die Besprechung eines Konzerts seiner ersten Band aus Shredder, einem Semipunk-Fanmagazin der achtziger Jahre. Er hatte sich ein- oder zweimal gefragt, wo diese Besprechung hingekommen war, und jetzt hatte er die Antwort.
»Der Leadsänger ist total geil, und normalerweise sag ich so was nicht über Männer, damit’s keine Mißverständnisse gibt. Ich hab niemand mehr so singen hören, seit Bono und U2 auseinander sind, echt wild und wild echt. Mit andern Worten, wenn die Jungs von Eaten Young ihren Sänger behalten, dann haben sie eine richtig kommerzielle Nummer. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber es ist die Wahrheit …«
Daß seine Mutter das Wort »geil« sorgfältig mit einem Filzstift geschwärzt hatte, daß sie überhaupt ein Blättchen, das sich Shredder nannte, in ihrer Schublade versteckt hatte, nur weil sein Gesang darin erwähnt war, rührte ihn beinahe wieder zu Tränen. Wer hätte das gedacht?
Aber was das bedeutet, ist klar, nicht wahr? Johnny, Cat, sogar diese Rezensionen: Ich habe die in mich gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Ab wann ist es schiefgelaufen?
Eine neue Niedergeschlagenheit überkam ihn, die er nicht erwartet hatte: Ihn bedrückte nicht mehr nur das unbedeutende Leben seiner Mutter, sondern jetzt auch sein eigenes. Er legte die Besprechungen weg und blätterte die übrigen Papiere durch. Seine Mutter hatte ein paar Kochrezepte und zwei Zettel von Oma Dowd aufgehoben, keine Briefe – aber schließlich hatte diese die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens bei seinen Eltern gewohnt, wieso sollte sie ihrer Tochter da Briefe schicken? Bei den Zetteln handelte es sich um die Bitte an Anna, ein Medikament abzuholen, sowie um eine herausgerissene Seite aus einem Versicherungsnotizblock, auf der nur stand: »Entschuldige, ich habe es vergessen. Erinnere mich bitte, daß ich morgen danach schaue. Mama.« Beide wirkten vollkommen uninteressant, so daß Theo sich zunächst fragte, ob sie vielleicht in einem unmittelbar nicht einsichtigen Kontext von Wichtigkeit waren und sich als Schlüssel zu einer größeren Episode aus der Familiengeschichte herausstellten. Erst als er den Rest des trostlosen Haufens von bezahlten Rechnungen und Kontoauszügen durchwühlte, wurde ihm klar, daß Anna Dowd Vilmos deswegen an diesen bedeutungslosen Notizen festgehalten hatte, weil sie von ihrer Mutter sonst nichts Aufhebenswertes besaß.
Gute Nacht, Niemand.
Der eisige Schauder schien wiederkommen zu wollen, doch es war nur ein leises Frösteln bei dem Gedanken an zwei Menschen, beide tot mittlerweile – drei Menschen, wenn man seinen Vater mit seinen Meldungen über Nissenhütten dazuzählte –, die so wenige Zeugnisse ihres Lebens hinterlassen hatten, die spurlos verschwunden waren wie in den Fluß geworfene Steine: ein paar kleine Kräuselwellen, dann nichts mehr.
Jeder Mensch fängt als Individuum an. Dann geht er in der Masse unter.
Er brauchte jetzt noch ein Bier. Er
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