Der Blumenkrieg
einen Wandel herbeizuführen. Ich aber werde in die Wirklichkeit, wie deine Welt sie kennt, ein großes Loch reißen, zu groß, um es zu flicken oder die einströmende Flut auszuschöpfen. Wenn die Urnacht erst einmal einschießt und ein Chaos verursacht, wie es selbst deine von Unruhen geschüttelte Welt seit tausend Jahren oder länger nicht erlebt hat, wird nichts mehr sie aufhalten.« Er seufzte genüßlich. »Es wird herrlich sein. Wie in einem Fluß dissonanter Musik zu baden. In einem Sturm dunklen Lichts. Schreie, nutzlose Gebete, das einzigartige Geräusch, das entsteht, wenn ein ganzes Weltgefüge zerbricht – das alles werde ich trinken, bis ich berauscht bin. Darauf warte ich schon mein ganzes Leben.«
Theo war angewidert, doch er wollte es nicht zeigen. »Deine ganzen, was, sieben Jahre?«
»Mein Leben währt schon genausolang wie deines, mein Halbbruder, mein blinder und tauber Zwilling, aber ich habe es in dieser Welt verlebt. Wir hier, die wir die Lüfte Elfiens atmen, altern langsamer, aber du kennst den Zeitpunkt meiner Geburt – auch dies etwas, das mir gehörte und dir gegeben wurde.«
»Aber weißt du, was ich hatte und du nicht? Eine richtige Familie. Ein Leben.« Theo wollte der grinsenden Kreatur in Gestalt eines Kindes so weh tun, wie er nur konnte; ihm war zumute, als wären es die schlimmsten Teile seiner selbst, die da schadenfroh spottend neben ihm saßen. »Liebe. Weißt du überhaupt, was das ist?«
Das Schreckliche Kind lachte. »Du vielleicht?«
Nieswurz fuhr gereizt herum. »Halt den Mund!« Etwas ergriff von Theo Kontrolle, und er konnte nicht mehr sprechen. Der Junge grinste und schaute zum Fenster hinaus.
Die Kampfkutschen fuhren weiter die sich windende Straße hinunter, die in ein von dichtem Bodennebel verhangenes waldiges Tal führte, wie es aussah. Breite Schneisen ununterbrochener Finsternis gähnten zwischen den Bäumen. Immer noch standen beiderseits der holperigen Straße leere Behausungen, doch sie waren direkt in die Erde gegraben worden und nahezu unsichtbar: Nur schmutzige Öffnungen, die für Tierbauten zu regelmäßig waren, oder hier und da ein Dachvorsprung, der aus einem Erdhaufen oder einem Laubgewirr hervorragte, ließen erkennen, daß hier einmal jemand gewohnt hatte.
»Mir ist es unheimlich hier«, jammerte Apfelgriebs. »Ein gräßlicher Ort.«
Theo konnte nicht reden und sich kaum bewegen. Er ließ den Kopf zurückfallen und blickte durch das Kuppeldach der Kutsche auf die Spitzen der hohen alten Bäume. Die vorbeiziehenden Wipfel beschrieben links und rechts Wellenlinien, die an Kurven auf einem Oszilloskop erinnerten. Etwas beobachtete sie von hoch oben, eine winzige geflügelte Gestalt, die vor dem sich verdunkelnden Himmel kaum zu erkennen war, und im ersten Schreck dachte Theo, es wäre der nächste angreifende Drache, doch dann sah er ein, daß er etwas so hoch am Himmel Fliegendes durch die treibenden Nebelschwaden niemals hätte erkennen können. Es war ein grauer Vogel, der höchstens fünfzig Meter über ihnen hin und her flog, als ob er den Wagen im Auge behalten wollte – eine Eule oder vielleicht ein kleiner Falke. Dann wurde der Nebel dichter und der Himmel noch ein Stück dunkler. Als er den Vogel aus den Augen verlor, überkam ihn ein Gefühl der Traurigkeit.
Vielleicht das letzte freie Lebewesen, das ich je zu Gesicht bekommen werde. Ich hätte Apfelgriebs sagen müssen, sie soll wegfliegen, solange ich noch reden konnte. Sie ist ihnen zwar angeblich egal, aber wenn sie erst mal mit mir fertig sind, bringen sie sie womöglich aus purer Bosheit mit um. Die Vorstellung, sie könnte wieder unter der Glasglocke sitzen, diesmal jedoch in den langfingrigen Händen von Anton Nieswurz – oder schlimmer noch, dem hungrigen Kind –, ließ einen Laut der Furcht und des Abscheus in ihm aufsteigen, der irgendwo zwischen den Lungen und dem Kehlkopf erstarb, weil er nicht gegen Fürst Nieswurz’ Schweigebefehl ankam.
Und es wird noch besser kommen, verhöhnte ihn das Schreckliche Kind lautlos. Theo wimmerte. Er konnte die Stimme, die fremde Gegenwart nicht aus seinem Kopf verbannen. Es war wie das Ringen in einem Albtraum. Leid und Grauen, wie sie die Tagwelt nur einmal in einer ganzen Epoche heimsuchen. Wart’s nur ab, mein Bruder. Du wirst grandiose Dinge erleben!
Die Serpentinenstraße führte jetzt über eine Erhebung, und kurzfristig kamen sie unter der endlosen Baumkolonnade hervor. Ein ungeheuer weites waldiges Tal erstreckte sich
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