Der Blumenkrieg
der Fährmann gesagt hatte, war für alle Platz, auch wenn das Theo jetzt, wo sie drin waren, nicht glaubhafter vorkam als vorher, als sie noch am Ufer gestanden hatten: Wohin er auch schaute, überall schien das Boot ein wenig weiter zu reichen, als eigentlich möglich war.
Als Wuschel mit dem letzten Schutzmann an Bord gekommen war, legte das Boot anscheinend von selbst ab und strebte in ruhiger Fahrt zur Insel zurück.
Der Fährmann betrachtete Theo interessiert. Seine bernsteingelben Augen waren schräg nach oben gezogen und leuchteten irrwischartig, doch die Klugheit des Blicks und die tiefen Lachfalten auf der braunen Haut bildeten einen beruhigenden Kontrast dazu. »Du hast einen leichten Menschengeruch an dir«, sagte der Fährmann. »Aber nicht richtig. Wie heißt du?«
Zu seiner Überraschung stellte Theo fest, daß er wieder sprechen konnte. »Das weiß ich nicht mehr so recht. Theo Vilmos. Septimus Veilchen. Kommt mir so vor, als würde es keine große Rolle mehr spielen.« Er fühlte die Gegenwart des Schrecklichen Kindes in seinem Kopf, obwohl er es im Moment nicht erblicken konnte, und das kalte Leuchten der Vorfreude auf das, was geschehen sollte, erschwerte es ihm, sich zu konzentrieren.
»Ich heiße Puck.« Der Fährmann musterte Theo von Kopf bis Fuß. »Manche nennen mich auch Robin Goodfellow, obwohl ich reumütig gestehen muß, daß ich nicht immer so ein guter Kerl war, wie der Name sagt. Wie ich sehe, bist du mit den nassen Schwestern verabredet.«
»Was?« Theo lugte zu Nieswurz hinüber, doch falls der Blumenfürst bemerkt hatte, daß Theo wieder sprechen konnte, schien es ihn nicht zu stören.
»Er meint die Nymphen«, sagte Apfelgriebs leise. »Dein … Armband.«
Theo schaute auf den Grashalm an seinem Handgelenk, dann auf das stille Wasser ringsumher, dessen glatte Oberfläche von der Fahrt des Bootes kaum bewegt wurde. Der See wirkte so schweigend und uralt wie der Wald; Theo konnte sich gut vorstellen, daß alles mögliche dort in der Tiefe lebte. »Ah. So. Nun, da werden sie sich mit in die Schlange stellen müssen.«
Puck lächelte wieder und entblößte dabei erstaunlich spitze Zähne. »Und es ist sogar eine der Ältesten und Größten aus der Schwesternschaft, die hier wohnt, aber zweifele nicht daran, daß sie dich genauso schnell schnappt, wenn du ins Wasser fällst, wie ihre jüngsten, hungrigsten Schwestern. Vielleicht solltest du nicht so nahe am Rand sitzen.«
Theo zuckte die Achseln. Wie schwer es ihm auch fiel, sich zu konzentrieren angesichts der wachsenden freudigen Erregung des Jungen, der sein Bewußtsein infiltrierte, so fiel es ihm doch fast noch schwerer, sich in dieser Situation um sich selbst zu sorgen. »Ich kann mich zur Zeit nur bewegen, wenn Fürst Nieswurz mich läßt.«
Puck nickte und pochte auf den Reif um seinen Hals. »Unser derzeitiger Herr und Meister versteht sich wahrlich famos aufs Fesseln und derlei Künste, was?« Er beugte sich vor und sagte in gut hörbarem theatralischen Flüsterton: »Wir fragen uns, was für Spiele seine Mama wohl mit ihm machte, als er noch klein war, unser Nidrus.«
»Du bist am Leben, weil du ein Original bist, Puck.« Anscheinend hatte Nieswurz ihr Gespräch doch nicht gänzlich ignoriert. »Aber Spaß an Originalität ist keine sehr starke Emotion und somit keine zuverlässige Sicherheitsgarantie.«
»Trefflich bemerkt, Fürst Nieswurz.« Trotz des Reifs um den Hals und der schweren Kette, die ihn an die Ruderbank fesselte, brachte Puck eine elegante kleine Verbeugung zustande. »Und was«, sagte er zu Theo, »ist der Zweck deines Besuchs hier, wenn ich fragen darf? Nicht daß ich etwas dagegen hätte – mit ein bißchen Gesellschaft vergehen die Jahrhunderte gleich schneller.«
Theo seufzte. »Ich glaube, wir werden die Welt vernichten. Eine Welt jedenfalls. Es war früher mal meine Welt.«
»Aha«, bemerkte Puck, »wieder ein arbeitsreicher Tag für die Blumenfürsten.« Doch die Mitteilung schien ihn zu bedrücken, und er sagte nichts mehr.
Die Fähre durchstieß einen letzten Nebelstreifen und lief an der Insel auf.
41
Der Dom
D ie Insel war nicht sehr groß, aber dennoch hatte Theo, als er Nieswurz’ Befehl ausführte und, bedroht von den völlig unnötigen Gewehren der Wächter, ausstieg, Mühe zu verstehen, wie sie aussah. Es lag nicht am abnehmenden Licht, daß er ihre Form schlecht einschätzen konnte, auch nicht am Nebelschleier, der vom Wasser aufstieg, und nicht einmal an dem
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