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Der Blumenkrieg

Der Blumenkrieg

Titel: Der Blumenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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würden.
    Das Ziehen des ergrimmenden Kindes wurde stärker, und der jähe Schmerz traf Theo wie eine Keule, so daß er einen Moment lang allen Halt verlor, doch dann haschte er nach der Erinnerung an das Goblinlied – nicht allein an den Beat, nicht einmal an die Musik, sondern an das Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit, das sie ihm gegeben hatte – und zog sich wieder auf seinen Posten über dem inneren Abgrund hoch. Noch nicht, widersprach er dem Jungen, und trotz der fraglosen Gewißheit, daß er letztlich verlieren würde, war es jetzt Theo, der spottete. Ganz so leicht wird es doch nicht. Erst machen wir noch ein bißchen Musik, Brüderchen.
    Er gab alles, was er noch hatte, um den sturen Takt in Stücke zu hacken, diese Stücke durcheinanderzuwerfen und daraus neue Bewegungen zu bilden, die in jedem zeitlosen Augenblick doppelt so weit zur Seite ausschlugen wie nach vorn. Er sang, wenn auch bloß in seinem Kopf, und der dunkle, kalte Junge konnte nur nach ihm grapschen, ohne ihn jedoch zu erwischen, ihn umschließen, ohne ihn einzusperren. Er sang die Pausen zwischen den Schlägen, die Schläge zwischen den Pausen, die Töne, die nach der Stille kamen, und sogar die Töne, die in der Stille selbst waren. Er war sich dabei bewußt, und es belustigte ihn sogar ein wenig, daß dies der größte Auftritt war, den er jemals haben würde, jemals haben konnte, aber dieser Auftritt würde nicht nur sein letzter sein, er war außerdem vollständig lautlos.
    Die Wut des Jungen stieg und stieg, und sie war verbunden mit der zunehmenden Sorge, die Gelegenheit könnte vergehen – eine Sorge, die so greifbar war, daß Theo sie förmlich vor seinem inneren Auge sehen konnte. Einen kurzen Moment lang glaubte er beinahe, er könnte tatsächlich die Pläne des Schrecklichen Kindes durchkreuzen. Während es immer angestrengter darum rang, seinen Widerstand abzuwürgen und ihn niederzuknüppeln, erkannte Theo nicht nur die ungeschützten innersten Gefühle des Kindes, sondern spürte sogar zum erstenmal, worauf diese ganze komplizierte Operation abzielte: einerseits auf die unendlich vielfältigen Energien von Theos nichtsahnender früherer Welt und andererseits auf etwas, das sowohl größer als auch kleiner war, ein Schatten so nebelhaft wie Rauch und doch so hart wie der Tod.
    Die Urnacht. Ihr plötzlicher Anhauch überrumpelte ihn und erschütterte ihn bis ins innerste Mark – und schon dieser ganz geringe Kontakt brachte ihn beinahe um. Er brach angesichts dieser irrsinnigen Leere zusammen, stürzte ab in das nackte, schiere Grauen und verlor die Verbindung zu dem Funken in ihm, der bis dahin widerstanden hatte. Von einer Welle eisigen Triumphs emporgetragen saugte das Kind alles ab, was Theo zurückgehalten hatte: Eben noch war es in ihm vorhanden und fühlbar aktiv gewesen, im nächsten Moment war es fort. Plötzlich hatte Theo die Augen offen, und ringsherum war wieder die Hügelszenerie, doch er war nicht mehr der Mittelpunkt des Geschehens.
    Zeit zu sterben, dachte er, doch die Aussicht war nicht mehr so grausig wie vorher. Es war beinahe gemütlich, am Boden zu liegen und zu wissen, daß man alles getan hatte, was man konnte, und daß nichts mehr von einem erwartet wurde, nicht einmal am Ende der Welt – schon gar nicht am Ende der Welt. Die anderen, die am Rand der Grube standen, waren noch dem Leben verhaftet und starrten bang und erwartungsvoll auf das Schreckliche Kind, dessen Beschwörung sich jetzt, wo sie zu Ende ging, zu neuen Höhen glühender Intensität steigerte. Auf allen Gesichtern schien das violette Licht, alle waren still und starr, als fürchteten sie mehr als alles andere, bemerkt zu werden. Nichts außer dem Licht bewegte sich.
    Nein, das stimmte nicht ganz: Theo erspähte abermals eine Bewegung ein Stück weiter weg, diesmal nahe der Insel im Wasser. Es war schwer zu erkennen, und anfangs hielt er es für eine Sinnestäuschung durch das Spiel von Nebel und Licht über dem flachen Hügel, doch dann war er sicher: Irgend etwas entstieg dort gerade dem See. Zunächst war es nur ein Kopf, doch als Hals und Schultern langsam nachkamen, wurde ihm klar, daß dieses Etwas nicht schwamm, sondern ging. Es war die Erscheinung, die er auf der anderen Seite hatte ins Wasser gehen sehen, und sie war zu Fuß über den Grund des Sees bis zur Insel gegangen.
    Noch bevor er die leeren Augenhöhlen und die zerfetzten Lumpen der einstigen Polizistenuniform ausmachen konnte, wußte er, was da auf ihn

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