Der Blutengel
den Kopf, aber der Ausdruck meines Gesichts ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass ich ihm die Wahrheit gesagt hatte.
Er drehte sich zur Seite und flüsterte: »Dave Mitchell gehört zu den Leuten, die ebenfalls viel Hämoglobin verloren haben.«
»Ich weiß.«
Er warf einen Blick auf Iris King, die auf der Bettkante saß und ins Leere schaute.
»Man kann sie wohl nicht beschützen – oder?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Jedenfalls dürfen wir sie nicht allein lassen. Sie und auch nicht die vier anderen Opfer. Wenn sie schutzlos sind, dann...«, ich hob die Schultern. »Sie haben ja erlebt, was dann passiert. Ich werde wohl gleich einen Anruf Ihres Kollegen bekommen. Er wird mir sagen können, woran Dave Mitchell gestorben ist.«
»Durch Hämoglobinraub, denke ich mir. Man wird ihm die Sauerstoff-Transporter gestohlen haben. Vereinfacht gesagt, es ist schlechtes Blut zurückgeblieben, und das kann kein Mensch verkraften, Mr. Sinclair. Ich sage es Ihnen.«
»Und ich akzeptiere es.«
Dr. Kellerman schaute auf seine Uhr. »Bitte, Sie müssen mich jetzt entschuldigen, aber...«
»Ist schon okay.«
»Da wäre noch Iris King.«
»Keine Sorge. Ich werde mich um sie kümmern. Aber ich möchte nicht, dass sie wieder zurück zu den beiden alten Frauen kommt.«
»Wir werden eine Möglichkeit finden.«
»Gut. Ansonsten bleibe ich jetzt erst mal bei Ihnen.«
Dr. Kellerman lächelte. »Man kann sagen, dass sie es dann gut hat, ganz im Gegensatz zu den vier anderen Kranken. Denken Sie, dass der Tod des Patienten Mitchell erst der Anfang war? Und wenn, man hat ihn auch nicht so bewachen können, wie es...«
»Um Sie aufzuklären, Doktor. Dave Mitchell befand sich nicht mehr im Krankenhaus, als er umgebracht wurde. Es geschah in seiner Wohnung. Er muss entlassen worden sein.«
Der Arzt wollte ein »unmöglich« sagen, aber das Wort blieb ihm im Hals stecken.
»Ich hätte den Patienten niemals schon so früh entlassen. Das würde ich auch bei Iris King nicht verantworten. Aber es gibt natürlich auch die Möglichkeit, dass er auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen hat. Dorthin tendiere ich eher.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
Dr. Kellerman schüttelte den Kopf. »Manchmal gibt es Momente, da möchte man lieber nicht an die Zukunft denken. Heute ist wieder ein solcher.«
»Nicht alles zu schwarz sehen, Doktor. Und jetzt kümmern Sie sich um Ihre Patienten, die sind wichtig.«
»Sie sagen es.«
Wir verließen gemeinsam den Raum. Ich allerdings kehrte sofort wieder zurück mit zwei Flaschen Wasser in den Händen. Es war warm und zugleich schwül hier im Raum. Da konnte man einen Schluck vertragen. Es gab zwar ein Fenster, dessen Scheibe allerdings bestand aus undurchsichtigem Glas, und durch den offenen Spalt strömte auch nicht eben Frischluft in die Totenkammer.
Ich reichte der jungen Frau die Kunststoffflasche. »Sie werden sicherlich Durst haben, Iris.«
»Danke, den habe ich.«
Es war ein stilles Wasser, und so entstand kein zischendes Geräusch, als sie den Verschluss aufdrehte. Während Iris trank, ließ sie mich nicht aus den Augen. Wenig später sank ihre Hand mit der Flasche langsam nach unten.
»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll und was mit mir los ist«, flüsterte sie mit tränenschwerer Stimme. »Alles ist so schrecklich geworden. Es hat sich so vieles verändert. Ich weiß, dass man mich unter Kontrolle hat. Ich wurde angegriffen. Man hat mich beraubt. Ich bin schwach geworden. Ich kann mich kaum erholen. Ich weiß ja, was man mir geraubt hat. Dr. Kellerman hat es mir gesagt. Aber warum, verdammt? Warum hat man das getan? Was habe ich diesem Wesen getan, das aus dem...«
Sie wusste nicht mehr weiter, senkte den Kopf und fing an zu weinen. Ich wollte nicht wie ein Lehrer vor seiner Schülerin stehen bleiben und setzte mich neben ihr auf das Bett.
»Ich weiß, was sie durchgemacht haben, Iris. Aber jetzt bin ich bei Ihnen, und ich verspreche Ihnen, dass ich Sie schützen werde. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Wie denn?«, schluchzte sie.
Es war eine gute Frage, und sie hatte ein Recht darauf, dass ich ihr eine Antwort gab. Zwar klang sie etwas optimistisch, aber etwas anderes wusste ich nicht zu sagen.
»Der Angreifer wird es kaum wagen, hier zu erscheinen, wenn Sie nicht allein sind.«
»Bitte?«
Ich wiederholte meine Antwort.
Iris King war trotzdem noch so überrascht, dass sogar ihre Tränen stoppten. Sie hob den Kopf und schaute von der Seite her in mein
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