Der Blutkelch
Donnchad, für einen Mann, der eine so wichtige Pilgerreise ins Heilige Land gemacht hatte, war die Zelle trostlos leer.
»Schenken wir den Worten des Abts und seines Verwalters Glauben, so wurde außer dem Leichnam nichts von hier fortgeschafft«, sagte Eadulf verwundert.
Strohsack und Wolldecke lagen unordentlich auf der hölzernen Bettstatt. Beide waren voller Flecken, eindeutig Blutspuren. Auf einigen Regalen befand sich Schreibkram, Gänsekiele und ein kleines Messer, mit dem man sie spitzte. Auch einen abgebrochenen Stylus entdeckten sie und ein
adarcín
, ein Stück aus einem Kuhhorn, das man als Behälter für schwarze Tinte benutzte, die man aus Kohle herstellte. Aber etwas, auf dem man hätte schreiben können, war nirgends zu sehen, kein Bogen Pergament, auch kein Schreibpult oder Malstock, mit dem der Schreiber die Hand abstützte. Nirgends ein Buch, keinerlei Schriftrollen oder Manuskripte, alles Dinge, die man in der Kammer eines Gelehrten erwartet hätte.
»Merkwürdig«, murmelte Fidelma vor sich hin, und Eadulf, der ihre Gedanken las, pflichtete ihr bei: »Nicht einmal ein
marsupium
oder
tiag luibhar
, keine Schultertasche, um wenigstens ein kleines Buch zu tragen.«
Fidelma zeigte unter das Bett. Am Fußende, kaum zu sehen, hatte sie eine Holzkiste bemerkt.
»Zieh die mal vor, Eadulf. Vielleicht gibt die etwas her.«
Eadulf kniete sich hin und zerrte die Kiste hervor. Sie war unverschlossen, mühelos ließ sich der Deckel öffnen. Irgendetwas Aufschlussreiches fanden sie nicht, lediglich ein Paar Sandalen, eine Kutte und Unterwäsche.
»Keine Spur von Manuskripten. Aber selbst wenn wir von den kostbaren vermissten Schriften absehen, ein Gelehrter mit seinem Ruf müsste doch die einen oder anderen Dokumente in seiner Zelle haben. Trotzdem, nichts dergleichen.«
»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als von der Vermutung auszugehen, dass der Mörder sie gestohlen hat.« Fidelma hatte sich umgedreht und tastete mit ihren Blicken sorgfältig die Wände ab.
»Wonach hältst du Ausschau?«, fragte Eadulf.
Fidelma nahm sich eine Wand nach der anderen vor und meinte: »Überleg mal, was wir alles zu hören bekommen haben: Bruder Donnchad ist angeblich hier ermordet worden. Durch Stiche im Rücken. Die Tür, zu der es nur einen Schlüssel gab, war von innen verschlossen, und eben den Schlüssel fand man bei der Leiche, die auf dem Bett lag. Wie es aussieht, konnte man weder durch die Tür noch durch das Fenster in die Zelle gelangen.«
»Da darf einen das allgemeine Unbehagen hier nicht wundern. Geschichten von übernatürlichen Wesen sind im Umlauf«, entgegnete Eadulf. »Heute früh im
refectorium
erzählteman mir, dass einer der Brüder behauptet hätte, er habe einen Engel am Gebäude vorbeifliegen sehen.«
»Nach meiner Erfahrung steckt hinter jedem Mord ein menschliches Wesen«, erwiderte Fidelma eiskalt. »Die Frage ist, wie dieses Wesen hier hereingekommen ist, das Opfer getötet hat und mit einem Bündel von Manuskripten wieder verschwunden ist, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.«
»Möglicherweise gibt es doch einen zweiten Schlüssel.«
»Der Schmied, der Schloss und Schlüssel angefertigt hat, kann uns das vielleicht beantworten. Wir werden ihn fragen. Doch vorher sollten wir uns vergewissern, ob wir jede weitere Möglichkeit eines Zugangs ausschließen können.«
»Glaubst du ernsthaft, man könnte noch auf andere Weise hier eindringen?« Eadulf war skeptisch. »Wenn es an dem wäre, hätte Glassán, der Baumeister, davon gewusst und den Abt informiert. Unter seiner Aufsicht ist das Haus schließlich gebaut worden.«
»Wir sollten die Sache lieber selbst überprüfen«, meinte sie und inspizierte weiter die Wände.
»Selbst wenn jemand durch eine Geheimtür oder einen Tunnel hier eingedrungen wäre, hätte Bruder Donnchad das bemerkt, klein wie der Raum ist. Er hätte sich gewiss nicht kampflos ergeben.« Eadulf erwärmte sich für diesen Gedanken und fuhr fort: »Natürlich hätte er es genauso gut mitbekommen, wenn jemand die Tür benutzt und sie mit einem Zweitschlüssel geöffnet hätte.«
»Du hast recht, Eadulf.« Fidelma verharrte kurz und überlegte. »Selbst wenn Donnchad fest schlief und den Eindringling nicht hörte, so hätte er in dem Falle im Bett gelegen. Wie sollte ihn da der Täter mit Stichen in den Rücken ermordet haben, ohne dass er sich wehrte?«
Draußen im Gang vernahm man Schritte, und gleich darauf betrat Bruder Lugna den Raum und mit ihm ein
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