Der Blutkelch
bestatten sollte. Die Grabplatte für den zweiten Abt von Lios Mór, Carthachs Onkel mütterlicherseits, Cuanan, entdeckten sie an der Südseite der Kapelle. Sie sahen sich eine Weile aufmerksam um, und Eadulf lugte sogar unter den Altar, aber sie konnten keine Stelle ausmachen, an der man etwas hätte verbergen können.
»Ich fürchte, wir müssen Bruder Gáeth selbst fragen, was Donnchad ihm gegeben hat und wo er es verborgen hält.« Eadulf seufzte.
»Glaubst du wirklich, er würde eine solche Frage beantworten?«, gab Fidelma gereizt zurück. »Aus irgendeinem Grund hat er uns das Wichtigste vorenthalten, und wenn wir ihm klipp und klar sagen, dass er nicht offen zu uns war, wird er erst recht den Mund halten. Überleg doch mal, Eadulf!«
Eadulf wurde puterrot und entgegnete gekränkt: »Eins finde ich schwierig an dir, Fidelma, du hast zwei völlig verschiedene Seiten.«
Sie sah ihn überrascht an.
»Da ist die Person, in die ich mich verliebt habe«, fuhr er fort. »Der humorvolle und einfühlsame Kamerad. Und dann ist da die Person mit der verletzend scharfen Zunge, hochfahrend, angriffsbereit, fordert die Konfrontation heraus. Diese Seite an dir mag ich nicht. Ich mag die Art nicht, wie du Schelte austeilst, wie du tadelst, ohne auf die Beweggründe zu achten, die ich für meine Kommentare oder Handlungen habe. Es ist, als würde ich überhaupt nicht zählen, wenn du mit deinen Nachforschungen beschäftigt bist. Dabei kann sich meine Meinung als genauso wertvoll wie deine erweisen, manchmal sogar nicht nur das. Ich begehre nie gleich auf, wenn du etwas sagst, weil ich mir Mühe gebe, deinen Gedankengang zu verstehen, selbst wenn ich anderer Meinung bin. Ich frage mich immer,
warum
du etwas gesagt hast. Du hingegen fasst jede Äußerung von mir gleich als eine Kritik an deinen Fähigkeiten auf.«
Fidelma stand regungslos da; ihr war, als hätte sie jemand geohrfeigt.
»Jetzt bekomme ich offensichtlich zu hören, wie du wirklich über mich denkst, oder wie?«
Eadulf, immer noch rot, hatte sich inzwischen wieder in der Gewalt.
»Werde nicht gleich so heftig, lass dir das, was ich sage, erst durch den Kopf gehen. Ich sehe durchaus beide Seiten an dir. Aber ich gebe zu, dass ich es müde bin, ein …« – er suchte mühsam nach einem passenden irischen Wort – »ein
idbartach
zu sein.« Ihm fiel nur das Wort »Opfer« ein, und er hoffte, es würde den Gedanken zum Ausdruck bringen, dass er nicht ständig die Zielscheibe ihres Zorns sein wollte.
Fidelma war sichtlich verärgert. Eadulf wartete auf den fälligen Wutausbruch. Doch zu seinem Erstaunen nahm ihrGesicht einen bekümmerten Ausdruck an. »Was erwartest du von deinem Leben, Eadulf?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.
Er verstand nicht gleich, worauf sie hinaus wollte, zu überrascht war er von dem unerwartet sanften Ton.
»Was ich von der Zukunft erwarte? Ich möchte nicht ohne dich und unseren Sohn Alchú leben. Aber ich möchte geachtet werden, und ich möchte, dass meine Gefühle ebenso viel gelten wie die anderer.«
»Glaubst du, es würde uns glücklich machen, wenn du mich zwingst, den Beruf der Anwältin aufzugeben und mich einer abgeschiedenen Gemeinschaft anzuschließen? Versucht hast du es ja.«
»Vielleicht war es falsch, das zu glauben. Aber ich möchte kein bloßes Anhängsel der Fidelma von Cashel sein«, erwiderte er entschieden. »Ich möchte meine Eigenständigkeit wahren. Ich möchte um meiner eigenen Werte willen geachtet werden, nicht um deinetwillen.«
»Geschieht das nicht schon jetzt?«, fragte sie.
»Keineswegs«, entgegnete er ohne Zögern. »Obwohl ich bereits viele Jahre hier lebe, bin ich ein Fremder geblieben. Meine Existenz hier ist auf deine Nächstenliebe angewiesen.«
Sie schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Wir haben von Anfang an gewusst, dass es mit uns nicht einfach werden würde. Nicht umsonst habe ich darauf bestanden, dass wir, wie es hier Brauch ist, ein Jahr und einen Tag zusammenzuleben, bevor wir den Bund der Ehe eingingen.«
»Ich weiß, ich weiß. Vielleicht war es mein Fehler. Da war aber auch noch Klein-Alchú.«
»Ich kann zu dem allen nur sagen, dass es mir leid tut, dass du das Gefühl hast, nicht nach deinen eigenen Werten gemessenzu werden. Du kennst mich, ich kann nun mal mein Temperament schlecht zügeln. Wenn ich mich über etwas aufrege, kann ich meine Zunge nicht im Zaume halten. Aber das eine möchte ich klarstellen: Glaubst du, ich wäre ohne deinen Rat, ohne deine
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