Der Blutkelch
meinte, er hätte sie Bruder Lugna erzählt, der für die Bauarbeiten zuständig ist. Der hat ihn angewiesen, den Mund zu halten, denn Glassán sei verurteilt worden und hätte die Strafe gezahlt.«
»Dagegen kann man nicht an«, sagte Fidelma. »Wenn ein Verurteilter nach den Vorschriften des Gesetzes Schadenersatz geleistet hat, darf er nicht mit weiteren Strafen belegt werden. Aber eine Sache beschäftigt mich. Was hat Glassán bei der Anhörung vor Gericht zu seiner Verteidigung vorgebracht? Wusste das Bruder Echen auch?«
»Seine Art, sich zu verteidigen, war es, die den Brehon veranlasste, ihm eine hohe Strafe aufzuerlegen. Er versuchte, alle Schuld auf seinen Gehilfen abzuwälzen, der die Bauarbeiten beaufsichtigt hatte, wo er es doch hätte selbst tun müssen. Er behauptete, derweil Aufgaben anderenorts imKönigreich gehabt zu haben, dort wäre seine Anwesenheit erforderlich gewesen und er hätte seinem Gehilfen vertraut. Er blieb dabei, dass einzig und allein sein Untergebener versagt hatte.«
»Glassán hat dem Arbeitsvertrag zugestimmt, und damit lag die Verantwortung bei ihm«, stellte Fidelma fest. »Ich hätte ihn auch die Ehrenpreise für die Toten an die Familien zahlen lassen. Da war der Brehon zu nachsichtig. Aber selbst wenn man Nächstenliebe hat walten lassen, es fällt mir bei diesem Hintergrund schwer, zu verstehen, dass Abt Iarnla und Bruder Lugna sich trauen, einen solchen Mann mit dem riesigen Bauvorhaben hier zu beauftragen.«
»Wann ist das Unglück geschehen?«, fragte Eadulf. »Hat sich der Stallmeister dazu geäußert?«
»Vor etwa zehn Jahren.«
»Vor zehn Jahren? Das ist lange her. Und mit der Arbeit hier wurde erst vor zwei oder drei Jahren begonnen, ziemlich bald, nachdem Bruder Lugna nach seinem Rom-Aufenthalt in die Abtei kam«, überlegte Fidelma laut.
»Ich frage mich, woher Bruder Lugna ihn kannte«, bemerkte Eadulf nachdenklich.
»Das kann ich euch sagen.« Gormán lächelte vergnügt. »Na ja, ich hab’s von Bruder Echen. Es ging das Gerücht, Glassán wäre ins Exil nach Connachta gegangen und hätte dort Bauaufträge ausgeführt.«
»Und Bruder Lugna kommt aus Connachta«, ergänzte Eadulf.
»Glassán soll sich auf unterirdische Vorratsräume spezialisiert haben und wurde Meister im
uamairecht
, im Bau von Kellern.«
»Im Bau von Kellern?« Fidelma machte eine entschlossene Kehrtwendung in Richtung Kapelle. »Daran habe ichüberhaupt nicht gedacht«, und zu Eadulf gewandt: »Komm. Wir haben unsere Arbeit noch nicht beendet.«
Mit einem misstrauischen Blick zum hohen Dach der Kapelle folgte ihr Eadulf.
Verwirrt eilte ihnen Gormán hinterher. »Würde mir vielleicht jemand sagen, was jetzt los ist?«
»Wir müssen herausfinden, ob das Gebäude hier einen Keller hat oder einen Gang, der zu ihm führt. Wenn ja, dann muss der Eingang zugemauert sein«, rief Fidelma zurück.
Es dauerte eine Weile, bis sie alle wieder aus der Kapelle kamen. Der Fußboden der Kapelle war eine glatte Fläche, nirgends gab es ein Anzeichen von einem Eingang zu tieferliegenden Gewölben. Man sah Fidelma ihre Enttäuschung an. Ein weiteres Mal musste sie sich eingestehen, hier war nicht »Der Hügel der Toten«, wo Bruder Gáeth etwas hatte verstecken wollen, was immer es auch war, das ihm Bruder Donnchad gegeben hatte. Sie schaute zum Himmel und kam seufzend zu dem Schluss: »Uns bleibt gerade noch Zeit, uns zum Abendessen fertig zu machen. Die Glocke wird gleich läuten.« Mit raschen Schritten strebte sie dem Gästehaus zu, Eadulf hinterdrein. Den verblüfften Gormán ließen sie einfach stehen.
KAPITEL 10
Eadulf klopfte sacht an Fidelmas Tür. Sie öffnete ihm, und er traute seinen Augen kaum.
Fidelma erschien nicht in ihrem schlichten und praktischen Gewand, das sie sonst immer trug, sondern hatte sich gekleidet, wie es ihr als Tochter des verstorbenen Königs und Schwester des nun regierenden Königs von Muman zukam. Eadulf hatte sie nur selten derart geschmückt gesehen, zuletzt vor einem Jahr, als sie vor dem Großen Rat des Hochkönigs in Tara ihr Plädoyer hielt. Auch bei anderen Anlässen hatte sie gelegentlich eine festliche Robe getragen, doch nie, wenn sie Gast in einer Abtei war.
Sie hatte sich für ein Kleid aus tiefblauem Satin entschieden. Der Stoff war mit Goldfäden durchwirkt, die ein kompliziertes Muster ergaben. Bis zur Taille lag das Gewand eng an; der weit schwingende Rock reichte bis an die Knöchel. Die Ärmel waren im Stil des
Weitere Kostenlose Bücher