Der Blutkelch
aufbrachte. Jedenfalls hielt ich das für eine logische Erklärung.«
»Und völlig zu Recht«, pflichtete ihm Fidelma freundlich bei, als wäre das Problem damit gelöst. Sie blickte in die Runde und wechselte das Thema. »Die Bauarbeiten gehen gut voran. Die neue Kapelle sieht wirklich großartig aus.«
»Sie ist in der Tat prächtig geworden«, bestätigte auch Bruder Eadulf. Der Verwalter nahm ihre Komplimente mit stolzgeschwellter Brust entgegen.
»Nicht lange, und unser Name wird in der ganzen Christenheit für die Reinheit des Glaubens in der Abtei und die Reinheit ihrer Lehren stehen«, verkündete er überzeugt.
»Für die Reinheit des Glaubens und die Reinheit ihrer Lehren?«, fragte Fidelma vorsichtig nach.
Bruder Lugna sah sie scharf an. »Wir haben eine schwierige Aufgabe vor uns. Unreine Auffassungen und lasche Verhaltensweisen haben sich in der Gemeinschaft verbreiten dürfen – die gilt es, auszumerzen. Jedenfalls sehe ich darin meine Aufgabe. Zu freigiebig wird denen Absolution erteilt, die sich nicht eines strikten Gehorsams befleißigen und nicht die Vorschriften des Glaubens befolgen. Wer sich von der Wahrheit abwendet und dann annimmt, er könne Abbitte tun und man würde ihm verzeihen, der …«
Unvermittelt hielt er in seinem Redeschwall inne. Vermutlich war ihm klargeworden, dass er womöglich zu viel gesagt hatte. Er nickte ihnen kurz zu und schritt rasch davon. Fidelma blickte ihm lange und nachdenklich hinterher.
»Irgendwie ist mir der Mann unheimlich«, murmelte Eadulf.
»Sympathisch ist er nicht gerade«, stimmte sie ihm zu. »Komm, lass uns lieber der Sache nachgehen, von der der Abt gesprochen hat. Die Sache mit Bruder Gáeth, der irgendetwas in dem ›Hügel der Toten‹ verborgen haben soll. Am besten, wir beginnen mit der Kapelle.«
Die
daimhliag
, so nannte man Kirchen, die aus Stein gebaut waren, verfehlte nicht ihre Wirkung. Sie war aus gewaltigen, mit Sorgfalt behauenen und polierten Steinquadern errichtet, hatte wie viele Kirchen eine Ost- und Westachse,wobei der Eingang im Westen, der Altar im Osten lag. Die Mönche hatten bereits begonnen, um das neue Gebäude Bäume zu pflanzen, vorrangig Eiben, die sich besonders eigneten, um den sogenannten
fidnemed
, den Zufluchtshain, zu bilden. Solcher Art heilige Wäldchen zu zerstören oder gewaltsam in sie einzudringen galt als Frevel. Schon ehe der Neue Glaube in den fünf Königreichen Einzug gehalten hatte, war das so Brauch gewesen, und so war es bis in ihre Tage. Ob Bruder Lugna sich mit der althergebrachten Sitte abfinden würde, war die Frage.
Die Kirche war nicht so groß wie viele andere Klosterkirchen, die Fidelma kannte. Sie maß fünfundsiebzig Fuß in der Länge und etwa achtzehn Fuß in der Breite. Bis zum höchsten Punkt des langen, nach beiden Seiten schräg abfallenden Daches waren es vielleicht fünfundzwanzig Fuß. Neben dem Haupteingang auf der Westseite befanden sich eine Glocke und ein Seil, mit deren Hilfe man die Gemeinde zu den Gottesdiensten rief. Die Eichentür und die Fenster verjüngten sich nach oben, was damals durchaus üblich war. Eingefasst war das oben waagerechte Portal mit riesigen Steinen. Die Kirchenfenster waren schmal und hoch und liefen in einem Dreieck aus, dessen Spitze nach oben zeigte. Das steile Dach war mit flachen, dünnen Steinplatten gedeckt.
Innen an den Wänden hingen wollene Teppiche mit Darstellungen von Szenen aus dem Leben des heiligen Carthach oder Mo-Chuada, wie der Gründer der Abtei im Volksmund genannt wurde. Den Altar aus Eichenholz zierten Schnitzereien, dahinter stand, dem Brauch folgend, der Priester, mit dem Gesicht der Gemeinde zugewandt, wenn er den Gottesdienst hielt, wenngleich einige Priester, sofern sie der römischen Liturgie folgten, der Gemeinde den Rücken zukehrtenund den Blick auf den Altar richteten. Bänke, wie sie Fidelma von manchen Kirchen auf dem Festland kannte, waren nirgends vorgesehen; die Gemeinde stand während der Gottesdienste.
Sie schauten sich um.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand hier etwas versteckt hat«, bemerkte Eadulf.
»Wir sollten nach den Gräbern der Äbte Ausschau halten«, erwiderte Fidelma. Dabei standen sie unmittelbar davor. Die Grabplatte für den heiligen Carthach, den Begründer der Abtei, war unmittelbar vor dem Altar in den gefliesten Boden eingelassen. Das Fußende zeigte nach Osten, das Kopfende nach Westen und folgte damit der Sitte, dass man die Toten mit den Füßen in Richtung Osten
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