Der Blutkelch
wohl als Nächstes aufgesetzt werden.
»Genau da habe ich ihn gefunden«, sagte der Arzt.
Fidelma ging näher heran. An einem aufrechtstehenden Holzpfosten fiel ihr ein dunkler Fleck auf. Sie feuchtete eine Fingerspitze an und fuhr darüber. »Getrocknetes Blut«,murmelte sie. »Da muss Eadulf mit der Stirn gegen geprallt sein.«
»Möglicherweise ist er gestolpert und hat sich beim Sturz den Kopf aufgeschlagen«, erwog der Heilkundige. »Eine Stelle wie diese hier ist im Dunkeln gefährlich.«
»Eins steht jedenfalls fest, aus freien Stücken ist er nicht gegen den Pfosten gerannt, um sich den Schädel aufzuschlagen«, erwiderte Fidelma sarkastisch.
»He, ihr da! Vorsicht!« Sie drehten sich um. Glassán, der Baumeister, und sein Gehilfe Soar waren aufgetaucht. »Was treibt ihr hier? Wenn man auf einer Baustelle einfach herumspaziert, lauern überall Gefahren.«
»Das haben wir bereits festgestellt«, erwiderte Fidelma trocken. Da bemerkte Glassán den Türsturz am Boden.
»Was ist denn hier passiert? Der Sturz war doch fachgerecht aufgelagert, als wir gestern Feierabend machten!«
»Ich könnte schwören, dass es so war. Vielleicht war er noch nicht richtig eingekeilt.« Saor fühlte sich sichtlich unbehaglich.
»Selbst wenn, nur mit einem kräftigen Stoß lässt sich so ein Stein aus seiner Lage kanten«, bemerkte Fidelma und betrachtete nachdenklich die Seitenpfeiler.
Glassáns Augen wanderten vom Stein des Anstoßes zu ihr.
»Was willst du damit sagen? ›Ein kräftiger Stoß?‹«
»Hätte auch von selber herabstürzen können«, meinte Saor mit prüfendem Blick.
»Augenscheinlich ist Bruder Eadulf über etwas gefallen, möglicherweise über den Türsturz«, äußerte sich der Arzt.
Glassáns Verwirrung nahm deutlich zu, und so bot ihm Fidelma eine Erklärung. »Bruder Seachlann hat Bruder Eadulf vergangene Nacht bewusstlos hier gefunden. Vermutlich ister über etwas gestolpert und beim Fallen so gegen den Holzpfosten da geschlagen, dass er die Besinnung verlor.«
Der Baumeister erbleichte und presste die Kiefer zusammen. Sogleich schickte er Saor fort. »Kümmere dich um die anstehende Arbeit. Wird viel Mühe machen, den Türsturz wieder aufzusetzen.« Kaum war sein Gehilfe gegangen, erkundigte er sich beunruhigt: »Wie geht’s deinem Gemahl, Lady?«
»Er ist auf dem Weg der Besserung«, erwiderte der Arzt für Fidelma. »Hatte eine schlimme Wunde an der Stirn und Kopfschmerzen. Nichts weiter. Ich muss jetzt zurück zu meinem Patienten.«
Fidelma entließ ihn mit einer Handbewegung.
»Was hat Bruder Eadulf vergangene Nacht hier gewollt?«, fragte Glassán. »Es tut mir wirklich leid, dass er sich verletzt hat, aber ich muss darauf hinweisen, es liegt nicht in meiner Verantwortung, wenn jemand die Baustelle ohne Genehmigung betritt und sich dabei etwas tut.«
»Bislang hat dich niemand beschuldigt. Wir werden erst erfahren, was geschehen ist, wenn Eadulf wieder hergestellt ist und es uns erzählen kann.«
»Ja, richtig, richtig«, sagte der Baumeister. »Aber ich muss weiter, habe alle Hände voll zu tun.«
Seine Bemerkung hielt Fidelma nicht davon ab, angelegentlich das gesamte Umfeld zu betrachten. Erst dann verließ sie, vorsichtig über den Schutt schreitend, den Bauplatz. Widerstrebend folgte ihr Glassán bis zum Rand des Baugeländes. Gúasach, der kleine Gehilfe des Baumeisters, kam um die Ecke gerannt. Hastig warf er Fidelma ein Lächeln zu und begrüßte Glassán. »Guten Morgen,
aite
. Wo soll ich heute arbeiten?«
Fidelma schaute erstaunt hoch, denn
aite
bedeutete so viel wie »Pflegevater«.
Der Baumeister brummte nur: »Geh. Melde dich bei Saor.« Der Bursche nickte und verschwand zwischen dem Wirrwarr von Mauern.
»Du hast erstaunlich junge Leute unter deinen Arbeitern«, stellte Fidelma verwundert fest.
»Der Junge ist mein
dalta
, mein Lehrling, genau genommen mein Ziehsohn. Wenn alles gutgeht, ist er in sechs Jahren meiner Pflegschaft entwachsen und kann eigenständig in der Baukunst tätig werden.«
»Ist er schon lange bei dir?«
»Seit er sieben war, wie im Gesetz vorgeschrieben.«
Die meisten Jungen wurden im Alter zwischen sieben und siebzehn in Pflegschaft gegeben. Mit siebzehn erreichten sie das Alter der Wahl, waren volljährig und vor dem Gesetz für ihr Tun und Lassen verantwortlich. Die Pflegschaft gab es seit Urzeiten in allen fünf Königreichen und allen Schichten der Bevölkerung. Vorrangig galt sie der Bildung und Erziehung, denn die Pflegeeltern
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