Der Blutkelch
auch nicht, dass sich Bruder Donnchad überhaupt für den Baumeister interessiert hat. So, wie er sich verhielt, bedrückte ihn etwas ganz anderes.«
Eadulf war enttäuscht, sie aber fuhr fort: »Ich will dir zugestehen, dass Glassán durchaus verdächtig ist, und dieTatsache, dass dieser junge Gúasach sein Ziehsohn ist, unterstreicht nur, dass wir die beiden nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Dich hatte also diese Idee gepackt, und du bist in der Nacht losgezogen.«
»Ich hab das für eine richtig gute Idee gehalten«, erklärte er verdrossen.
»Du bist auf die Baustelle gelangt. Und weiter?«
»Ich wusste, wo die Leitern lagen und hatte auch eine Kerze bei mir. Während ich auf die Stelle zuging, hörte ich ein Kratzen.«
»Ein Kratzen? Als wenn ein Stein über einen anderen Stein schurrt?«
»Genau so.«
»Von wo kam das Geräusch?«
»Ich war mir nicht sicher. Vielleicht von über mir, dachte ich. Ich hob die Kerze, um etwas zu sehen …« Er zögerte. »Ich glaube, jemand hat was gerufen oder vielleicht auch nur scharf ausgeatmet. Plötzlich schoss ich vorwärts …«
»Bist du über etwas gestolpert?«
»Nein, bestimmt nicht. Irgendwas oder irgendwer hat mir einen Stoß versetzt, heftig, genau ins Kreuz, sodass mir die Kerze aus der Hand flog und ich mit voller Wucht nach vorn stürzte. Ich kam erst wieder zu mir, als Bruder Seachlann mir in seinem Hospital etwas einflößte.«
Bedächtig nickend hörte sich Fidelma die Geschichte an.
»Wenn du nicht von selber gefallen bist, hat dich jemand gestoßen, und wer immer das war, er hat dir das Leben gerettet.«
»Mir das Leben gerettet? Wie denn das?«, fragte Eadulf spöttisch.
»Der Sturz über der Türöffnung ist herabgefallen und hat dich nur um ein Haar verfehlt.«
»War das das Schurren, das ich wahrgenommen habe?«
»Ich glaube schon. Jemand hat den Stein mit Absicht zum Absturz gebracht.«
»Wer immer mich weggeschubst hat, muss also denjenigen gesehen haben, der den Stein ankantete, damit er mich trifft.«
»Wäre eine logische Schlussfolgerung. Doch warum?«
»Vielleicht, weil man befürchtete, ich wäre auf dem besten Wege, den Mörder von Donnchad zu entdecken.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Kann auch sein, die haben gar nicht gewusst, wer du bist. Von Bruder Donnán habe ich erfahren, dass es in letzter Zeit mehrere sogenannte Unfälle auf dem Bau gegeben hat.«
»Wäre doch nicht ungewöhnlich. Wenn viele Arbeiter diese gewaltigen Mauern aus Stein errichten, kann das nicht ohne Unfälle abgehen, stimmt’s?«
»Hast du irgendetwas gesehen, bevor der Stoß kam?«
»Ich hatte nur die Kerze. Als ich das Kratzen und Schurren hörte, hob ich sie in die Höhe, wollte wissen, woher es kam, habe aber überhaupt nichts erkennen können.«
»Du hast die Kerze hochgehoben, während es schurrte?«
»Wie gesagt, ich wollte herausfinden, woher das kam. Aber ehe ich noch irgendetwas ausmachen konnte, spürte ich den Stoß, und mir wurde schwarz vor Augen.«
»Der Kerzenschein wird auf dein Gesicht gefallen sein, vielleicht haben die mutmaßlichen Mörder da begriffen, dass du nicht derjenige warst, auf den sie es abgesehen hatten«, überlegte Fidelma laut.
»Wenn ich nicht derjenige war, den sie ermorden wollten, wen dann?«
»Wüssten wir die Antwort darauf, hätten wir die Lösung des ganzen Rätsels vor uns.«
»Ob es Glassán und sein Pflegesohn waren, die mich gestoßen haben?«
»Selbst wenn es Glassán war, der den Türsturz hinunter beförderte, der kleine Bursche hätte nicht die Kraft gehabt, dich mit solcher Wucht zu schubsen«, stellte Fidelma fest. »Andererseits hätte die Kraft des Jungen auch nicht gereicht, den Türsturz auszuhebeln. Ich glaube, wir können beide ausschließen. Zumindest den Jungen.«
Eadulf sah ein, sie hatte recht. »Ob wir uns vielleicht mit dem Jungen unterhalten sollten?«, schlug er vor. »Irgend etwas könnte er doch wissen, selbst wenn er selber nichts damit zu tun hatte.«
»Ja, ich bin auch der Meinung, dass wir von ihm etwas erfahren könnten. Aber ich möchte mit ihm allein reden. Glassán oder Bruder Lugna sollten nicht dabei sein.«
»Antwort auf eine Frage hätte ich allerdings gern. Was veranlasste den Arzt, nachts über die Baustelle zu gehen? Wie kam es, dass er mich da liegen sah, und wie hat er es fertiggebracht, mich in sein Hospital zu schaffen?«
»Du sprachst nur von einer Frage«, scherzte Fidelma. »Egal, es sind Fragen, die wir klären müssen. Ich werde
Weitere Kostenlose Bücher