Der Blutkelch
Steinen, keine Kommandos. Vor der halbfertigen Tür, deren herunterfallender Sturz Eadulf beinahe das Leben gekostet hätte, geriet sie ins Stocken. Ein kalter Schauder überlief sie. Wäre ihm ernsthaft etwas zugestoßen …, ohne ihn hätte sie niemals weitermachen können. Ihr war plötzlich zum Weinen zumute, sie fasste sich aber und versuchte den schrecklichen Gedanken zu verscheuchen.
Der Sturz ruhte wieder auf den Türpfosten, auch hatte man eine Reihe Steine darübergelegt, um ihm Festigkeit zu geben. Fidelma blickte über die verlassene Baustelle und konnte sich nicht erklären, warum hier keiner arbeitete. Sie wollte schon weitergehen, als jenseits der Mauern eine helle Stimme zu singen begann.
Hymnum dicat turba fratrum,
hymnum cantus personet …
Singet, Brüder, laut die Hymne,
Lobpreist dankbar Gottes Tun …
Neugierig lenkte sie ihre Schritte in die Richtung, aus der die Stimme kam, und fand in einer Ecke Gúasach, der gerade Holzscheite aufstapelte.
»Hallo«, rief Fidelma ihm zu.
Der Junge drehte sich mit verdutztem Gesicht um, strahlte sie aber fröhlich an, als er sie erkannte.
»Suchst du Glassán, Schwester?«, fragte er.
»Außer dir scheinen alle verschwunden zu sein«, gab sie zur Antwort. »Wo sind sie hin? Um für heute mit der Arbeit aufzuhören, ist es doch noch zu früh.«
»Sie haben nicht zu arbeiten aufgehört«, verteidigte Gúasach die Bauleute. »Sie werden alle unten im Steinbruch gebraucht, um neues Baumaterial ranzuschaffen.«
»Ach so. Dir scheint die Arbeit hier Spaß zu machen, oder?«, sie ließ sich auf einer Mauer nieder.
»Mit Hilfe meines Pflegevaters will ich es bis zum Baumeister bringen«, erklärte er stolz.
»Und woher kommst du?«
»Ich stamme von den Uí Briún Sinna, Schwester.«
»Dann kommst du also aus dem Königreich Connachta. Ist dein Pflegevater nicht aber aus Laighin?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er schon lange bei uns lebte, es heißt, er kam gleich nach meiner Geburt nach Connachta. Mein richtiger Vater ist Mühlenbauer; Glassán und er haben zusammen gearbeitet. Als ich sieben Jahre alt war, gab mich meine Familie zu Glassán in Pflegschaft, damit er mich zum Baumeister ausbildet und ich lerne, die verschiedenen Gewerke auf dem Bau zu meistern.«
»Du gehst also bei Glassán in die Lehre, wirst von ihm aufgezogen und ausgebildet, und das gegen Bezahlung.«
Der Junge verstand sie nicht gleich, und sie erläuterte ihm, was sie meinte. »Mein Vater zahlt Glassán für Ausbildung und Unterhalt einen
cumal
, drei Milchkühe«, teilte er ihr dann vertrauensselig mit.
»Du arbeitest also hier auf der Baustelle mit und lernst dabei Verschiedenes?«
»Ja. Ich wurde gerade zu der Zeit zu Glassán in Pflege gegeben, als er das Angebot erhielt, den Neubau der Abteihier zu übernehmen. Alles, was ich bisher gelernt habe, habe ich auf dieser Baustelle gelernt. Ich bin natürlich nicht so stark wie die Männer und kann nicht die ganz schwere Arbeit machen. Aber ich kenne mich in anderen Dingen aus, zum Beispiel in der Bearbeitung von Holz, in Zimmermannsarbeiten. Auch mit der Richtschnur kann ich umgehen und mit dem Messstab, das ist nötig, um die Steine in die richtige Position zu bringen.«
»Du bist ein kluges Bürschchen. Dabei ist deine Arbeit ganz schön gefährlich. Stell dir mal vor, der Türsturz, der sich vergangene Nacht gelöst hat, wäre heruntergefallen, als du gerade unter ihm arbeitetest.«
Der Junge nickte ernst.
»Der war bestimmt nicht sorgfältig gesetzt.« Wie um sich zu verteidigen, fügte er hinzu: »Aber ich habe das nicht ausgemessen. Wenn man nicht sehr genau arbeitet, können solche Unfälle passieren. Das habe ich bei Glassán gelernt.«
»Ein weiser Lehrsatz, beherzige ihn gut.«
»Mach ich auch. Glassán war richtig wütend, dass der angelsächsische Bruder verletzt worden ist.«
»Tatsächlich?«
»Seit Gealbháin nicht mehr hier ist, hat es mehrere solcher Unfälle gegeben. Der ging jeden Abend über die Baustelle und kontrollierte, ob alles seine Richtigkeit hatte. Er war ein peinlich genauer Bauarbeiter.«
»Gealbháin? Wer war das?«
»Der Gehilfe von Glassán.«
»Ich dachte, Saor, der Zimmermann, ist der zweite Mann hier.«
»Saor ist erst seit kurzem bei uns. Er ist für Gealbháin gekommen, der uns vor ein paar Wochen verlassen hat.«
»Weshalb ist er gegangen?«
»Das weiß ich nicht, Schwester.«
»Und die Unfälle sind erst passiert, seit Gealbháin fort
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