Der Blutkelch
nicht recht erholen konnte, obwohl er das Schlimmste überstanden hatte, abermals krank. Er starb. Zu diesem Zeitpunkt ernannten wir Bruder Lugna, der ursprünglich unter den Brüdern durchaus anerkannt war als jemand, der viele Jahre in Rom verbracht hatte, zum Verwalter.«
Der Abt machte eine Pause und benetzte sich mit der Zunge die trockenen Lippen. Fidelma stand auf und schenkte ihm aus einem Krug einen Becher Wasser ein. Der Abt leerte ihn in zwei Zügen.
»Erst später bekamen wir mit, wie begeistert Bruder Lugna von den Regeln einiger extremer Gruppierungen in Rom war. Er fing an, unsere altgewohnten Herangehensweisen zu verändern. Er vernichtete sogar eine Reihe Bücher in unserer Abtei, mit denen er nicht einverstanden war.«
»Tolerant ist er nicht, das ist mir auch aufgefallen«, bestätigte Fidelma. »Warum setzt du dich nicht zur Wehr? Du kannst ihn doch gut und gern zurechtweisen.«
»Kann ich nicht.«
»Wieso kannst du das nicht?«
Der alte Abt sah sie traurig an.
»Er hat die volle Unterstützung von Lady Eithne. Was immer Bruder Lugna tut, es ist in ihren Augen richtig. Nie zuvor war sie eine so fanatische Glaubensverfechterin. Solange Bruder Donnchad und Bruder Cathal noch auf Pilgerreise waren, hat Bruder Lugna den Platz ihrer Söhne eingenommen. Sie unterstützte Bruder Lugna in allem. Seine Idee war es, die Abtei in Stein neu zu bauen, und Lady Eithne bewilligte die Mittel dafür. Sie sagte, sie würde damit ein immerwährendes Denkmal für ihre Söhne setzen. Ich könnte schwören, es wird mehr ein Denkmal für Bruder Lugna sein.«
»Wie konntest du so etwas zulassen? Du bist der Abt. Du hast die Autorität.«
»Wo habe ich die? Du kennst das Gesetz, Fidelma. Du weißt, dass der Gebietsherr und der Rat des Clans, auf dessen Land eine Abtei gebaut wird, den Brüdern den Grund und Boden geben, aber nicht als ihr Eigentum. Der Gebietsherr und sein Rat behalten die Verfügungsgewalt über das Schicksal der Klostergemeinschaft, weil sie auf seinem Lehngut wirkt.«
Fidelma wusste, dass in zahlreichen Teilen des Landes der Grund und Boden der Abteien immer noch stammesgebunden waren. Vielerorts war der Abt gleichzeitig das Oberhaupt des Clans und wurde dazu in althergebrachter Weise gewählt. Das Amt von Abt und Bischof blieb oft von Generation zu Generation in der Familie. Maolochtair, Stammesfürst der Déisi, hatte den Burgherrn Eochaid angewiesen,Carthach, dem Begründer der Abtei, Grund und Boden in seinem Burgbezirk zur Verfügung zu stellen, der aber weiterhin dem Clan gehörte. Damit war klar, dass Lady Eithne als Gebietsherrin die letzte Verfügungsgewalt über die Gemeinschaft hatte. Es war ein eigenartiger, leider nicht ungewöhnlicher Tatbestand. In diesem Zusammenhang konnte Fidelma die Worte des Abts nachvollziehen.
»Lass uns das Ganze noch einmal festhalten, Abt Iarnla. Lady Eithne unterstützt Bruder Lugna, und wenn du ihn nicht gewähren lässt, droht sie, die gesamte Bruderschaft zu vertreiben. Sehe ich das richtig? Doch aus deinem Amt als Abt kann sie dich wohl kaum verdrängen, oder?«
»Gesetz ist Gesetz. Wer weiß das besser als du.«
Fidelma packte das Entsetzen bei dem Gedanken, Lady Eithne könnte die Gemeinschaft zum Abzug aus ihrem Bezirk zwingen und möglicherweise eine neue Abtei gründen, der dann Bruder Lugna vorstand.
»Weiß Abt Ségdae von Imleach, was hier gespielt wird?« Ségdae war gleichzeitig der Oberste Bischof von Muman. »Oder mein Bruder, der König?«
»Was kann ich schon viel sagen?«, erwiderte Abt Iarnla bekümmert. »Ich bin ein alter Mann. Ich bin mit der Art und Weise, wie mein Verwalter vorgeht, nicht einverstanden. Aber das zählt nicht, ist für die Gesetzgebung und auch für die Regeln der Bruderschaft nicht von Bedeutung. Es würde nur heißen, alt wie ich bin, habe ich Angst vor frischem Blut und neuen Ideen.«
»Und Angst davor, meinen Bruder und seinen Obersten Bischof ins Vertrauen zu ziehen?« Sie machte eine Pause, ehe sie ihm eine für ihn unerwartete Frage stellte. »Was meinst du, könnten diese Spannungen etwas mit dem Tod von Bruder Donnchad zu tun haben?«
Er riss erschrocken die Augen auf.
»Gott bewahre! Denkst du, Bruder Lugna hätte um seine Stellung gefürchtet, als Bruder Donnchad in die Abtei zurückkehrte? Hätte Sorge gehabt, Lady Eithne würde nicht länger zu ihm stehen, sondern fortan ihren eigenen Sohn, Bruder Donnchad, unterstützen? Argwöhnst du, Lugna hätte ihn ermordet, um sich ihre Gunst zu
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