Der Blutkönig: Roman (German Edition)
der Krone schwerer als je zuvor. Tris’ Pläne waren die einzige Hoffnung, die diese bemitleidenswerten Seelen hatten, und er war sich sehr wohl bewusst, wie unsicher die Chance auf Erfolg war.
In der Stadt war es sogar noch schlimmer.
Die Palaststadt war berühmt gewesen für ihre gastfreundliche und ungezwungene Lebensweise. Reisende kamen aus den ganzen Winterkönigreichen, um die Theater, Konzerte und die Wirtshäuser zu besuchen, die Margolans starkes, dunkles Bier ausschenkten. Der Handel aus allen Ecken des Reichs florierte und auf den Wiesen vor der Stadt hatten Festlichkeiten stattgefunden und Karawanen gelagert. Vor dem Staatsstreich hatte man in der Stadt Sprachen aus jedem Königreich vernommen, selbst solche, die jenseits der Nördlichen See oder in den weit entfernten Südlichen Königreichen jenseits von Trevath gesprochen wurden. Anhänger und Pilger kamen aus ganz Margolan, um im Heiligen Hain des Kindes und dem Großen Schrein des Mutteraspekts zu beten.
Jetzt waren in den Straßen nur wenig Menschen zu sehen. Auch wenn man sich vom Stadtzentrum fernhielt, die Vorstädte waren schlimm genug. Die Bewohner vermieden den Augenkontakt und schienen wie Käfer im hellen Licht in die Häuser zu streben. Wachen patrouillierten zu zweien oder dreien in den Straßen, manchmal mit knurrenden Hunden an der Kette. Die ohne Hunde trugen Schlagstöcke, die sie mit beiläufiger Bosheit in ihre Hand klatschen ließen. In weniger als einem Jahr war die lebendige Atmosphäre der Stadt verschwunden. Die Menschen in den Straßen sahen verhärmt aus und waren in stumpfe Farben gekleidet, als fürchteten sie, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Läden waren vernagelt. »Verräter der Krone« war auf die Tür eines geplünderten Ladens geschmiert worden.
Auf den Wiesen vor der Stadt, wo einst Musikanten gespielt und Karawanenzelte im Wind geflattert hatten, stand nun ein großer Galgen. Zehn frische Leichen hingen dort immer noch an ihren Stricken und schwangen leicht im Wind. Von Pfosten, die man entlang der Stadtmauer aufgestellt hatte, hingen ebenfalls Leichen, geteert und in engen Käfigen, die wie ihre Körper geformt waren, um die Geier fernzuhalten. Es war klar, dass in König Jareds Margolan die Furcht mit ebenso strenger Hand regierte wie der König selbst.
N UR EIN T AG blieb noch bis zum Hagedornmond. Tris wusste, es würde keine zweite Chance geben. Er brütete über seiner Strategie, und bedachte jedes Szenario. Kiara schien Tris’ angespannte Stimmung zu spüren und ritt schweigend neben ihm. Sie drängte ihn nicht zu einem Gespräch, vermied es aber auch nicht, wenn er sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken versuchte. Sie gab keinen Hinweis auf ihre eigenen Ängste. Jae war ruhelos und flog ihnen voraus, kam aber immer wieder zurück, als würden sie dem kleinen Gyregon nicht schnell genug reisen. Carroway jonglierte wie ein Besessener, wenn sie nicht ritten. Carina und Vahanian hatten ihre Wortgefechte auf ein Minimum reduziert. Von ihnen allen war Gabriel der Einzige, der nicht besorgt zu sein schien.
»Wir sollten heute nicht weiterreiten«, kündigte Gabriel an. Die Straßen waren immer vertrauter geworden. Tris erkannte die ausgefahrene Hauptstraße als die gleiche Route, auf der er vor einem Dreivierteljahr geflohen war.
»Ich kann es kaum abwarten, unsere Unterkunft für diese Nacht zu sehen«, murmelte Carroway so leise wie möglich.
»Unsere Bleibe ist gleich um die Ecke«, sagte Gabriel und lenkte sein Pferd in die genannte Richtung. Er war der Erste, der um die Ecke bog. Die anderen folgten ihm, zügelten aber ihre Pferde, als sie das in sich zusammengefallene Gebäude vor ihnen entdeckten.
»Das ist das gleiche verdammte Geisterwirtshaus, in dem wir unsere Reise begonnen haben«, stellte Carroway fest.
Die ausgebrannten Überreste des Gasthauses Zum Lämmerauge sahen in der Dunkelheit größer aus, als sie waren. Aber im Gegensatz zu der Nacht, in der sie entkommen waren, schienen sie nichts anderes zu sein als das: die Ruine einer alten Taverne, die nicht einmal Bettler angelockt hätte.
»Mein Lehnsherr«, sagte die heisere Stimme eines Mannes aus den Schatten der Ruine. Aus der Dunkelheit trat Comar Hassad, der Geist des Schwertkämpfers, der sie in der Nacht von Jareds Morden aus der Stadt weggebracht hatte.
»Hallo, alter Freund«, sagte Tris und gab dem Geist die nötige Kraft, um für die anderen sichtbar zu werden.
»Wir haben Eure Rückkehr erwartet, mein
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