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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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einem langen Schlaf schloss. Morgan hasste sich. Wenn dies alles vorbei war, beschloss er, würde er seiner würdelosen Existenz ein Ende setzen. Er war schon an der Tür, doch dann kehrte er noch einmal um, strich eine Strähne aus ihrem Gesicht und betrachtete sie. Schließlich nahm er die Kette ab, an der er seit fast dreihundert Jahren das Wappen seiner Familie bei sich trug. Er legte sie der Schlafenden um und dieses Mal wurde Morgans Blick wehmütig, als der Ring in dem Tal zwischen ihren Brüsten verschwand. Sie würde ihn hassen und verfluchen für das, was er getan hatte. Aber irgendwann würde sie dankbar sein, sich nicht für den Rest ihres Daseins an ihn gebunden zu haben. Ihn, ein Dunkelelf, dessen Familie ihn gleich zwei Mal verstoßen hatte. Zum ersten Mal, als er unschuldig, wie jedes Baby, zur Welt kam, und dann erneut, als er vorzeitig und durch ein Unglück zum Vampir wurde. Sie hatten ihn gerettet, ja. Aber dann war er wieder auf sich allein gestellt gewesen, ohne etwas über seine neuen Fähigkeiten und Talente zu wissen oder über die Gefahren, die in einer von Sterblichen beherrschten Welt auf ihn lauerten. Und mit einer jungen Frau belastet, die er bis dahin für seine Schwester gehalten hatte. Für Edna fühlte er sich verantwortlich, egal wessen Blut in ihren Adern floss.
    Wütend schlug er mit seiner Faust gegen die Wand. Die Verletzung war nebensächlich, das Loch, durch das er jetzt in den Wohnbereich sehen konnte, würde irgendjemand bald reparieren, seine Seele hatte dieses Privileg wohl verloren. Morgan steckte den Blutkristall ein und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Er beglich die Hotelrechnung für die nächsten Tage im Voraus und ließ wissen, man wolle nicht gestört werden. Als das alles erledigt war, eilte er mit zusammengebissenen Zähnen in seine Kreuzberger Wohnung.
    Unterdessen schwebte Vivianne auf einer unangenehmen Bewusstseinsebene dahin. Zwischen Übelkeit und Koma. Ein Traum jagte den anderen und keiner ergab wirklich einen Sinn. Vivianne kämpfte tapfer gegen den bleiernen Schlaf, doch auf einmal fand sie sich in einer Kutsche wieder, die durch Londoner Straßen rumpelte, und ihr wurde klar, dass sie erneut in die Rolle des kleinen Jungen geschlüpft war, dessen Leben sie in den vergangenen Nächten immer besser kennengelernt hatte. Doch heute war alles anders. Aus dem Schiffsjungen, dem fast die Augen aus dem Kopf gefallen waren, als er zum ersten Mal die Ureinwohner von Neu England gesehen und der sich trotzdem manchmal heimlich von Bord geschlichen hatte, um sich die Wilden , wie sein Kapitän sie nannte, näher anzusehen und sogar um mit dem einen oder anderen ihrer Kinder vorsichtig Kontakt aufzunehmen, aus dieser Urlondoner Pflanze, frech, vorlaut und blitzschnell, wenn es darum ging, ein Stück Brot oder einen Apfel zu stehlen, war ein erwachsener Mann geworden. Zum ersten Mal bedauerte sie es, dass ihr das Gesicht dieses Traummannes verborgen blieb, denn sie fühlte sich wohl in seiner Haut. Jung, voller Kraft und mit einer
Wut, die sie nur zu gut aus den Zeiten ihrer eigenen Transformation kannte. Er war, stellte sie überrascht fest, zum Vampir geworden. Und das musste erst kürzlich geschehen sein, denn jetzt bemerkte sie seine Verunsicherung. Die tiefe Verletzung, die sie in seiner Seele sah, das Gefühl, betrogen worden zu sein, schmerzte fast so sehr, als wäre sie es gewesen, die von ihrer Familie fortgegeben worden war und die man erst kürzlich ein zweites Mal verstoßen hatte. Es schmerzte, als müsse sie fortan zwischen den Welten wandeln, ohne eigene Vergangenheit und ohne erkennbare Zukunft.
    Sie stieg als unsichtbarer Schatten, gleichsam beobachtend und doch auch in ihm, aus einer Kutsche und erkannte dabei, dass er teuer gekleidet war. So schlecht schien es, zumindest finanziell, nicht um ihn zu stehen. Warum also war da diese Leere? Neugierig folgte sie ihm die Stufen zu einem eleganten Stadtpalais hinauf. Gemeinsam sahen sie über die Schulter, als die Kutsche davonraste, als wäre der Kutscher froh, seinen seltsamen Passagier endlich los zu sein. Der Türklopfer war abgeschraubt. Vivianne wusste, was dies bedeutete. Doch der Mann schien keine Ahnung zu haben und schlug immer wieder mit der Faust gegen die Tür, bis das Holz splitterte. Er konnte seine Kraft nicht einschätzen. Gerne hätte sie ihm gesagt, dass niemand zu Hause war. Im Keller, dort wo das Gesinde wohnte, schlief ein alter Mann seinen Rausch aus. Vermutlich

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