Der Blutkristall
abgrundtiefe Leid ihres Traumbegleiters, der nicht etwa, wie sie gedacht hatte, eine Geliebte betrauerte, sondern seine Ziehschwester, die nun auch ein Gesicht erhielt.
Zuckerwatte füllte ihren Kopf und jeder Gedanke verfing sich unweigerlich in der klebrigen Masse. Dabei gab es etwas ungeheuer Wichtiges zu tun. Sie kam nur nicht drauf. Vivianne stützte sich auf ihren Ellenbogen und versuchte, die Bettkante zu fixieren. Das verfluchte Ding bog sich und buckelte wie ein wildes Pferd, das sich nicht bändigen lassen wollte. Sie fühlte sich ein wenig, als säße sie im Sattel dieses verrückten Tieres. Oder in einem Karussell. Wie sie es als Kind geliebt hatte, in einen dieser Sesselchen zu steigen, die Sicherheitskette trotz der Warnung ihres Kindermädchens unverschlossen zu lassen und mit den Beinen zu baumeln. Bis die Maschine im Bauch des bunt bemalten Karussells protestierend ihren Dienst aufnahm; erst langsam, dann immer schneller die Schaukeln an ihren langen Ketten in die Luft stiegen, im Kreis sausten und immer höher und höher flogen, bis der Wind ihr Lachen verschluckte und die Wolken am Himmel zu silbernen Streifen wurden. Vivianne lehnte sich vor und kotzte, bis es womöglich nicht einmal mehr ihre Seele im schmerzenden Körper aushielt und über ein neues Zuhause nachdachte. Da dies höchst unwahrscheinlich war, musste es an etwas anderem liegen, dass sie erneut diese fürchterliche Leere in sich spürte. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass ihr der Blutkristall so sehr fehlen würde. Doch als sie ihn schon längst in den Händen hielt, wusste sie, dass es noch etwas oder besser noch jemanden gab, dessen Nähe, Vertrauen und Zuneigung ihr so wichtig geworden waren, dass sie nicht mehr ohne ihn leben mochte.
Und nun waren beide fort. Der Blutkristall – und Morgan, dem sie beinahe ihr größtes Geheimnis anvertraut hätte. Dieser verlogene Vampir hatte von Anfang an nichts anderes gewollt als ihren kostbaren Rubin!
Kapitel 15
Vivianne stieg aus dem Bett und durchquerte mit unsicheren Schritten das Schlafzimmer. Nachdem sie ihren Mund ausgespült und die Spuren ihres Malheurs beseitigt hatte, wich der Nebel in ihrem Hirn allmählich einem stechenden Kopfschmerz. Nicht einmal ihre blutigen Fantasien darüber, wie ihre Brüder Morgan Stück für Stück auseinandernehmen würden, konnten sie aufmuntern. Das wirst du bereuen , schwor sie und gelobte, in Zukunft keinen Vampir mehr in ihr Bett zu lassen, egal wie wunderbar sie sich dabei gefühlt hatte, wie sexy er sein mochte und wie überaus erfahren ... Schluss! Ihre Gedanken schlugen eindeutig die falsche Richtung ein. Immer noch auf wackeligen Beinen schlurfte sie zum Kühlschrank und inspizierte das Angebot. Heute durfte es einmal etwas Härteres sein. Am besten einen dieser Energydrinks, deren Wirkung bemerkenswert war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste. «Delirious Delight»? Das Zeug konnte ihr gestohlen bleiben. «Draconic Death» klang eher nach etwas, was sie Morgan jetzt gerne einflößen würde. Nichts Brauchbares zu finden. Vivianne griff kurzerhand zum Hörer des Haustelefons und schon wenige Minuten später klopfte jemand an die Tür. Eine junge Frau kam herein, einen silbernen Korb unter dem Arm, dessen Inhalt dezent mit einer großen weißen Serviette abgedeckt war, und zwinkerte ihr zu. «Eine kluge Wahl, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.» Sie stellte vier Blutcontainer im Tetra-Pack auf den eleganten Esstisch des Apartments und Vivianne unterzeichnete ohne mit der Wimper zu zucken die atemberaubende Quittung über fünfzehntausend Euro. Sie fügte handschriftlich noch ein großzügiges Trinkgeld hinzu und entschuldigte sich mit einem schiefen Lächeln. «Die Nacht war etwas turbulent ...» Sie folgte dem verständnisvollen Blick des Hausmädchens und bemerkte zum ersten Mal das riesige Loch in der Wand.
«Keine Sorge», versicherte die Frau und grinste jetzt unverhohlen. Ihre Nase kräuselte sich. «Wir kümmern uns um alles.» Damit warf sie einen bedeutsamen Blick zum Schlafzimmer und verabschiedete sich. Vivianne sah ihr regungslos nach. Wie peinlich! In diesem Hotel würde sie so schnell nicht mehr absteigen. Aber es gab Wichtigeres. Schnell öffnete sie die erste Packung und trank sie ohne abzusetzen aus. Die zweite hatte sie bereits zur Hälfte geleert, da begann die Wirkung dieses besonderen Blutcocktails einzusetzen. Sie fühlte sich ein bisschen wie Wonderwoman und wusste, mit den geborgten
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