Der Blutkristall
warnen, da knallte die Tür schon und die Fee schloss dreimal ab. Glücklicherweise hatte Vivianne ihr Handy in Morgans Wohnung gefunden und gleich eingesteckt. Schnell tippte sie die Nummer von dem Zettel ein.
«Was willst du?» Sie erkannte die Stimme sofort und erklärte so leise wie möglich: «Hör zu, Morgan ist in Gefahr. Ich muss unbedingt zu ihm. Hast du eine Ahnung, wo ...» Die Leitung war tot, aber wenige Sekunden später kündigten quietschende Reifen das teuflische Taxi an. Der Wagen hielt, die Tür sprang auf und Per brüllte gegen den Höllenlärm, der aus seinen Boxen dröhnte: «Steig ein!» Sie hatte die Tür noch nicht ganz geschlossen, da raste er schon wieder los.
«Hallo, mein Herz!»
«Warum bin ich nicht überrascht, dich zu sehen?» Vivianne blickte den Raben finster an, der sich auf der Beifahrerlehne festklammerte und die Fahrt offenbar genoss.
Anstelle einer Antwort krächzte der Vogel: «Schneller, es geht um Leben und Tod!» Und Per gehorchte widerspruchslos.
Kapitel 16
Per hielt den Wagen an, stellte das Radio aus und sah sich zu ihr um. Die Stille ließ Vivianne in der Bewegung erstarren und sie nahm ihre Hand vom Türgriff. «Ist es hier?»
Er nickte. «Hör zu, Prinzessin!» Als er ihr Erstaunen bemerkte, lachte er kurz auf. «Alle nennen dich so, wusstest du das nicht?» Er gab ihr keine Zeit zu antworten. «Auch wenn es nicht so aussieht. Morgan ist ein Freund. Der beste, den man sich wünschen kann. Und er würde sein Leben für dich geben.» Per räusperte sich. «Sieh zu», fuhr er ruppig fort, «dass du den Idioten davon abhältst!»
Vivianne betrachtete ihn kühl und stieg aus. Nabrah folgte ihr und setzte sich auf das Autodach, ausnahmsweise einmal ohne einen Kommentar abzugeben. Der Rabe und der Mann, beide beobachteten jede ihrer Bewegungen, wie sie die Tür zuschlug, wie sie sich bückte und an die Autoscheibe klopfte, die sich leise surrend senkte. Viviannes Blick verfolgte die Abwärtsbewegung, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der
Welt. Dann sah sie dem teuflischen Fahrer tief in die Augen und erkannte darin, wonach sie gesucht hatte: Aufrichtigkeit. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und sagte mit dunkler Stimme, die so gar nicht zu ihrem Spitznamen passen wollte: «Worauf du deinen Arsch verwetten kannst!» Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und wurde mit dem erstaunlichen Anblick einer riesigen Kultanlage konfrontiert.
Per lachte. «So gefällst du mir, Prinzessin.» Reifen quietschten und ihr Lieblingssong dröhnte über den menschenleeren Platz. Viel Glück! Dann war er fort.
Vivianne machte zwei Tanzschritte und streckte ihren Arm aus. Nabrah, den es fast vom Autodach geschleudert hätte, krächzte und ließ sich darauf nieder. «Mit deiner Vermutung liegst du übrigens gar nicht so falsch. Das ist hier das sagenumwobene Berliner Olympiastadion.»
Eine Reihe von Blitzen erhellte den Himmel in schneller Folge und beleuchtete die Kulisse wie ein unheimliches Feuerwerk. Es begann. Vivianne lief los und ihr schwarzgefiederter Schutzengel erhob sich in die Lüfte. Das kommt aus dem Wald!
Vivianne wurde klar: Die Zeit für Spielereien war vorüber. Wenn sie ihr Versprechen einlösen wollte, machte sie sich besser sofort auf die Suche nach der Ursache für die plötzlich sehr deutlich spürbaren Veränderungen in der Atmosphäre. Magie breitete sich aus wie ein tödlicher Atompilz und streckte auch nach Vivianne ihre Tentakel aus. Sie begann zu rennen, erst entlang der Arena durch einen Säulengang mit beeindruckenden Ausmaßen, über eine weite Rasenfläche und schließlich die Stufen einer steinernen Tribüne hinauf. Oben angekommen verschnaufte sie kurz und versuchte sich zu orientieren. Der Architekt dieser Anlage hatte gewusst, wie man Leute beeindruckte, das musste sie zugeben. Aber sie kannte die Geschichte und verweigerte ihm die Anerkennung. Sie wusste auch, was sie jenseits der Bäume erwartete: ein Amphitheater, gebaut auf Drachenlinien, deren Kraft schon von hier zu spüren war. Ein finsteres Grollen, jahreszeitenunüblich, aber doch leicht mit einem Gewitter zu verwechseln, mahnte sie zur Eile. Vivianne sprang, drei Stufen
auf einmal nehmend, von ihrem Standort hinab und raste die Straße entlang durch den Wald, bis ihr Lauf plötzlich von einer kräftigen Hand gebremst wurde, die sie am Arm festhielt und vom Weg zerrte. «Bleib stehen!»
«Morgan», hauchte sie atemlos. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals
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