Der Blutkristall
offensichtlich belogen und betrogen hatte. Vivianne stieß einen wütenden Schrei aus, der die Grundmauern des Gebäudes über ihr erbeben ließ. Wäre Morgan in diesem Augenblick ihr Gegner in einer Kampfarena gewesen, die Wetten hätten neunzig zu zehn für Vivianne gestanden, mindestens.
Aus einem vielleicht masochistischen Impuls heraus beugte sie sich vor und spähte in das steinerne Bett der Konkurrentin, als sie ein seltsames Geräusch hörte. Sie griff an ihren Hals, wo sie schon die ganze Zeit etwas irritierte, und erfühlte eine Kette. Der Anhänger musste wohl gegen den Granit dieses perversen Vampirgefängnisses geschlagen sein. Denn ein Gefängnis war es sicher, das hatte sie sofort gespürt, als sie sich ihm näherte. Doch es stimmte sie keineswegs milder, dass Morgan seine Gespielin in einer Gruft hielt wie ein williges Spielzeug, das man hervorholte, wenn es einem gefiel. Ich bringe dich um! Die Siegel waren mächtig, aber offenbar nicht kunstvoll genug, denn Edna war entkommen. Doch halt. Es gab Hinweise auf eine weitere Präsenz, außer Morgans Spuren und denen der Vampirin. Jemand anderes hatte sie befreit, und wer auch immer dies getan hatte, er wusste um ihre Gefährlichkeit.
Hier gab es nichts mehr zu erkunden, und Vivianne fand sich ohne nachzudenken im Loft wieder. Dieser magische Energydrink ist jeden Cent wert . Sie freute sich, dass Morgan die Zeche zahlen durfte.
Schnell erinnerte sie sich aber wieder an die Kette um ihren Hals, zog sie heraus und betrachtete den Anhänger in ihrer Hand eingehend. Ein Ring. Eingraviert war das Wappen eines Dunkelelfen-Clans, von dem sie nicht viel mehr wusste, als dass er aus Wales stammte und selten in Erscheinung trat. Irgendwann hatte es einmal eine unbedeutende Unstimmigkeit mit dem Rat gegeben, aber Vivianne war noch nie besonders interessiert an der Vergangenheit gewesen und hatte während ihrer Geschichts- und Politikstunden meist nur mit einem Ohr zugehört. Gerade genug, um die Prüfungen zu bestehen, die ihr Lehrer und Familie alle paar Monate zugemutet hatten. Schlimm genug, dass sie ihren Eltern Rede und Antwort stehen musste. Darüber hinaus waren jedes Jahr diese finsteren Typen aufgetaucht, die sie wochenlang unterrichtet hatten. Erst nach ihrer Transformation erfuhr sie, dass die beiden Männer ihre Brüder waren, die zukünftig die Verantwortung für sie übernehmen würden, weil ihre Eltern sich entschlossen hatten, einen ausgiebigen Urlaub anzutreten. Und so etwas konnte in ihren Kreisen ein paar Jahrzehnte dauern. Ihre Brüder hatten niemals einen Hehl daraus gemacht, dass sie davon überzeugt waren, die kindliche Wildheit der Schwester trüge die Schuld an der Erholungsbedürftigkeit ihrer Eltern, und sie hatten sie entsprechend behandelt. Vivianne, das lästige Küken, die unerfahrene Novizin, die in jeden Fettnapf und in jede Falle trat und die man am besten für die nächsten Jahrhunderte am Gängelband führte.
Konzentration . Diese Kette kannte sie. Sie hatte um Morgans Hals gelegen und dort ein wenig gestört, als ... Egal! Die Erinnerung an eine fantastische Nacht war wirklich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Sie überlegte. Was bedeutete all das? Morgan hatte sie betäubt und den Blutkristall gestohlen. Die Bilder aus ihren Träumen tauchten auf. Erneut spürte sie das abgrundtiefe Leid eines Vampirs, der nicht etwa, wie sie gedacht hatte, eine Geliebte betrauerte, sondern seine Ziehschwester, die nun auch, als sie ihre Erinnerungen genauer durchforschte, einen Namen besaß: Edna. Und der Traumvampir , das wusste sie in dieser Sekunde, als wäre sein Gesicht niemals verborgen gewesen, war kein anderer als Morgan.
Was also hatte es zu bedeuten, dass er Edna in einem Verlies in seinem Keller hielt wie ein wildes Tier? Die Antwort lag auf der Hand. Weil sie nichts anderes war. Ein blutrünstiges Ungeheuer, das ein verantwortungsbewusster Pate schon vor langer Zeit getötet hätte. Morgan traf keine Schuld. Davon war sie überzeugt. Wer auch immer Edna transformiert hatte, hatte dabei geschlampt und würde sich vor dem Rat für seine Tat verantworten müssen. Der Traum war ihr Zeuge, das Blut der Verrückten würde den letzten Beweis bringen, sobald man den verliebten Dunkelelf von damals identifiziert hatte.
Nachdenklich betrachtete sie den Ring. Merkwürdigerweise war er ihr zuvor nie aufgefallen, obwohl es durchaus Gelegenheit dazu gegeben hätte. Sie dachte daran, wie Morgan strubbelig und nur mit einem
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