Der Blutkristall
beobachtete, er wolle ihn auf der Stelle umbringen. Stattdessen senkte Morgan, jetzt wieder ganz in der Rolle des undurchsichtigen Vampirs, in der er sich offenbar gefiel, seine Stimme und sagte eindringlich: «Du wirst dich daran erinnern, wie sich beim Reinigen des Gewehrs ein Schuss gelöst hat. Weil du froh bist, dass nichts weiter passiert ist, wirst du die Waffe umgehend bei der nächsten Polizeistation abgeben. Das Zimmer mit der Nummer zweiundfünfzig steht seit Wochen leer.» Er wandte sich Vivianne zu und sie löste sich nur langsam aus einer Starre, die nahe legte, dass sie ebenfalls unter seinem Bann gestanden hatte. Aber nein, sie hatte nichts vergessen, auch nicht, wie wundervoll sich sein Körper angefühlt hatte. Auf eben diese Erinnerung hätte sie allerdings lieber verzichtet. Besonders, als Morgan sie hinter sich herzerrte und beinahe ein Absatz ihrer nagelneuen Schuhe an der letzten Stufe hängen geblieben wäre.
«Pass doch auf!» Sie entwand den schmerzenden Arm seinem Griff und rieb vorwurfsvoll ihre brennende Haut. «Was hast du herausgefunden?» Die Frage, warum er den Mann hatte lesen können und sie nicht, behielt sie für sich.
Morgan blickte verwirrt. Aha! Er hat doch nichts gesehen , dachte sie erfreut.
«Aber sicher, das habe ich.» Seine Worte klangen unangenehm überheblich in ihren Ohren. «Ich kann nur nicht verstehen, warum dieser Einbrecher nichts Besseres zu tun hatte, als bei seiner Ankunft sofort nach einem öffentlichen Badehaus zu fragen.»
Da lachte Vivianne laut heraus. Sie vergaß aber trotzdem nicht, ihre mentalen Schutzschilde zu verstärken. Ein schneller Griff an das magische Armband an ihrem Handgelenk und sie fühlte sich vor unerwünschten Eindringlingen in ihre Privatsphäre sicher. Hier bewies sich aufs Neue, dass man einen fremden Vampir, selbst so einen zerlumpten wie Morgan, niemals unterschätzen sollte. War es ihm tatsächlich gerade gelungen, ihre Gedanken zu lesen? Oder hatte ihre lebhafte Mimik sie wieder einmal verraten? «Wie lange, sagst du, warst du nicht mehr in Paris?» Vivianne zeigte ein süßliches Lächeln. «Unser räuberisches Pärchen wollte wissen, wo die heißeste Diskothek der Stadt zu finden ist. Zumindest war sie das früher einmal», fügte sie nachdenklich hinzu. «Ich gehe nicht mehr dorthin, der Club soll jetzt angeblich einem Vampir gehören.» Genauer gesagt, einem engen Vertrauten des Statthalters von Paris, wenn nicht sogar ihm selbst. Und wo die Mächtigen ihrer Art ein- und ausgingen, da war die Gefahr, enttarnt zu werden, zu groß. Statthalter wurden vom Rat eingesetzt, sie kontrollierten Metropolen, nicht selten ganze Länder. Wenig entging ihrer Aufmerksamkeit. Was zum einen nicht schlecht war, wenn sie dafür sorgten, dass das Gleichgewicht zwischen den Mächten erhalten blieb, andererseits aber erlaubte ihnen diese Position großen Einfluss, den nicht jeder ausschließlich zum Wohl der magischen Welt nutzte. In Paris residierte ein Dunkelelf. Ein geborener Vampir also und damit, wie sie selbst, von Adel und aufgrund seines Alters mit beträchtlicher Macht ausgestattet. Er hatte so lange im Verborgenen gelebt, dass die meisten annahmen, er wäre längst tot, bevor er im achtzehnten Jahrhundert plötzlich in England auftauchte und versuchte, London zu übernehmen. Doch der Vampir hatte dort einen ebenbürtigen Gegner vorgefunden und sich zurückgezogen. Von einem Skandal war in diesem Zusammenhang auch schon die Rede gewesen, aber Vivianne wusste darüber nichts Genaues. Nach wenigen Jahren jedoch erhielt dieser Dunkelelf erstaunlicherweise Paris als Protektorat. Viele waren davon überzeugt, er habe seinem Glück ein wenig nachgeholfen. Beweisen konnte ihm dies aber niemand.
Natürlich wusste er, dass Vivianne in seinem Bezirk lebte. Wie alle anderen auch hatte sie vorstellig werden müssen, als sie beschloss, ihren Wohnsitz in der französischen Hauptstadt zu nehmen. Persönlich begegnet war sie ihm jedoch nie. Da aber allgemein bekannt war, dass die Causantín-Brüder sie erschaffen hatten und sie deshalb unter ihrem Schutz stand, hatte er sie nicht weiter beachtet. Vivianne wollte es auch in Zukunft dabei belassen. «Ich glaube nicht, dass wir ihn dort finden. Heute ist vermutlich VIP-Nacht, da verkehren dort Stars und Sternchen, die sich mit den schönsten Models dieser Stadt vergnügen wollen. ‹Les Bains Douches›, das ist der Club, den du meinst. Er ist nur ein paar Straßen von hier
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