Der Blutkristall
sich von der Tresenkante ab und beugte sich über sie. «Ich bin gleich wieder da.» Sein Atem streifte warm ihren Hals, doch Vivianne fröstelte.
Sie sah ihm wider Willen hinterher und registrierte jede seiner Bewegungen. Der Vampir durchquerte den Raum mit den geschmeidigen Bewegungen eines geborenen Jägers. Allmählich kam ihr der Verdacht, dass sie ihn unterschätzt hatte. Er mochte einst ein Sterblicher gewesen sein, wie diejenigen, die ihm nun wie Schilfhalme den Weg freigaben. Doch davon war augenblicklich nichts zu spüren. Er besaß, so erschien es ihr, die absolute Kontrolle über jeden Einzelnen. Am Ende dieser magischen Furt stand eine Frau, deren Mähne in Flammen zu stehen schien. Vivianne sah ihr einladendes Lächeln, als Morgan das rote Haar beiseiteschob und offenbar ohne Umschweife zur Sache kam. Sie konnte den unverwechselbaren Geruch frischen Blutes bis hierher riechen, ihre Nasenflügel bebten und eine Sehnsucht erwachte in ihr, die sie ängstigte. Rasch trank sie einen Schluck ihres Blutcocktails, der plötzlich schal schmeckte. Sie hätte besser ausgiebig frühstücken sollen. Dies waren die ersten Lockrufe des unersättlichen Hungers. Einmal geweckt konnte er jeden Vampir ins Verderben stürzen. Besonders wenn man ihm zu spät nachgab und in einen gefürchteten Blutrausch verfiel, anstatt sein Verlangen mithilfe einer Blutkonserve zu lindern. Und noch schlimmer: Sehr junge Vampire waren ebenso gefährdet, die Kontrolle zu verlieren, wie diejenigen ihrer Art, die schon seit Jahrhunderten auf dieser Erde wandelten. Wie lange lag Morgans Transformation zurück?
Ein irres Lachen ertönte. Von Morgan konnte es nicht kommen, dessen Zähne steckten noch im Hals der willigen Lady. Es beschlich sie das Gefühl, dass sie jeder anstarrte. Vivianne schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. Drei Frauen
imitierten ihre Geste gleichzeitig. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen und nun legten weitere Gäste in einer Parodie ihrer Verwirrung ihre Stirn in Falten. Sie griff nach ihrem Getränk und überall wurden Gläser sichtbar. Morgan! Zu ihrem Verdruss klang dieser Gedanke deutlich nach dem, was er war: ein mentaler Hilferuf.
Der Vampir drehte sich um, las das Spiegelbild ihrer Besorgnis in den Gesichtern der anderen und murmelte etwas Unverständliches. Sofort verloren die Sterblichen das Interesse an ihr und kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, als hätten sie niemals etwas anderes getan. Unerfahren konnte er wahrlich nicht sein, wenn es ihm gelang, eine ganze Meute im Handumdrehen zu manipulieren. Morgan kam zurück zum Tresen, nahm ihre Getränke und bedeutete Vivianne, ihm zu folgen. Sie sah sich suchend um, aber von der rothaarigen Sirene war nichts mehr zu sehen. Stattdessen ging von ihm eine neue Energie aus, die kleinen Spinnenfüßen gleich über seine Haut zu huschen schien. Im Nebenraum stellte er beide Gläser ab. Hier war die Lautstärke erträglicher, obwohl die Musik immer noch in ihren Ohren schmerzte.
«Teufel, was war das?»
«Nahe dran, ma Puce.» Nicht Morgan antwortete ihr, sondern ein hochgewachsener Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Weiße Haare flossen über seine Schultern, als hätten sie ihren eigenen Willen. Sein Gesicht war das aus Marmor geformte Antlitz eines Engels, und seine Augen gaben nur preis, was er andere sehen lassen wollte. Einen Wimpernschlag lang glitzerten sie dunkelrot. «Weißt du nicht, wo du bist?» Und an Morgan gewandt fuhr er fort: «Was denkst du dir eigentlich dabei, sie hierher zu schleppen?»
«Hätte ich sie allein zu Hause lassen sollen?»
Vivianne, die es, ebenso wie die meisten anderen Geschöpfe, nicht schätzte, wenn über sie und nicht mit ihr gesprochen wurde, mischte sich ein: «Cyron!» Ihr Unterbewusstsein registrierte, was ihr noch nie zuvor aufgefallen war: Den netten Barkeeper, der ihr schon manch fade Stunde in Paris versüßt hatte, kannte sie ausschließlich in der Uniform seines jeweiligen Arbeitgebers. Und immer stand er bei ihren Begegnungen hinter dem Tresen, die Haare zusammengebunden, meist mit einem weißen Hemd, stets mit Schürze. Cyron war niemals so präsent gewesen wie heute. «Was machst du denn hier?» Vivianne blinzelte erstaunt. Schon bei ihrer ersten Begegnung war sie seinem Charme erlegen. Anders konnte sie sich auch gar nicht erklären, warum sie ausgerechnet ihm als einzigem Mann erlaubte, den Kosenamen «Ma
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