Der Blutkristall
nachfragen, warum sie diese Information benötigte. Vielleicht ging aber auch seine Seelenpartnerin ans Telefon. Viviannes Schwägerinnen waren unkonventionell und modern. Was vielleicht an deren lichtem Naturell lag oder einfach daran, dass beide noch keine dreißig Jahre auf dieser Erde weilten. Bei meinem Glück geht bestimmt Kieran dran , dachte sie. Keine angenehme Vorstellung. Er würde sofort ahnen, was los war, und in Sekundenschnelle durch die Zwischenwelt zu ihr eilen. Sie stellte sich eine Begegnung zwischen dem strengen Vengador und ihrem Gastgeber vor und fröstelte. Lieber nicht. Vivianne stieg ins Bett. Immerhin, der Bezug roch ebenso frisch wie das Leinentuch, mit dem sie sich abgetrocknet hatte, und sie fragte sich, welchen Gast Morgan ursprünglich in dieser fensterlosen Klosterzelle beherbergen wollte. Während sie die Decke bis zum Kinn zog, erschien irgendwo da draußen die Sonne hinter dem Horizont und ihr fielen die Augen zu.
Morgan streckte sich zur gleichen Zeit auf einem weit komfortableren Bett aus. Aber er hätte liebend gern auf den Schlaf verzichtet, wenn er damit auch seine Träume losgeworden wäre:
«Morgan!» Der kleine Junge zuckte zusammen. Was wollte Vater jetzt schon wieder? Der Kamin war gekehrt, das Feuerholz für diesen Tag lag in handlichen Scheiten bereit und in den Scheiben des elterlichen Geschäfts spiegelten sich die Sonnenstrahlen, die es zwischen den Häusern hindurch bis zu ihren Auslagen geschafft hatten. Die Londoner Gesellschaft lag in ihren Betten und vor der Mittagszeit würde sich keine elegante Kalesche sehen lassen.
«Ja, Vater!», beeilte er sich zu antworten.
«Komm her, Kind.» Das verhieß nichts Gutes.
Morgan war längst auf das Endgültige vorbereitet. Seine Mutter, sanft zu den Kindern und so organisiert, wenn es um ihren Haushalt ging, baute seit Monaten ab. Es hatte mit Kleinigkeiten begonnen. Sie vergaß niemals etwas und plötzlich fehlte der Talg für die Lampen. Dann war es das Ziegenleder, danach das Garn für die kostbaren Stickereien. Vater mochte ein begnadeter Handschuhmacher sein, ohne Mutters Geschäftssinn jedoch hätte das feine schottische Leder, worum sich in der letzten Saison die Ladies und Gentlemen regelrecht geschlagen hatten, niemals den Weg in seine Werkstatt gefunden. Im vergangenen Monat hatten dann die Felle gefehlt, aus denen Vater und seine Gesellen zauberhaft bedruckte Kunstwerke schufen. Das jedenfalls waren exakt die Worte der Herzogin, die in dieser Saison die Mode bestimmte.
«Mutter ist von uns gegangen.»
Morgan hätte gerne geschrien: «Man hat sie vertrieben – du, Vater, trägst die Schuld!» Aber seine Mutter hatte ihn ordentlich erzogen. Er wusste, wo sein Platz war, und schwieg. Seine kleine Schwester krähte vergnügt. Und ohne eine Träne zu verschenken, begann der kleine Junge, Vorbereitungen für die Beisetzung seiner Mutter zu treffen. Jeder hier wusste, wie so etwas vonstattenging. Der Tod war ein ständiger Begleiter, und es konnte sich glücklich schätzen, wer in dieser Stadt das Geld hatte, seine Lieben überhaupt ordentlich zu beerdigen.
Kapitel 5
«Ausgeschlafen?» Morgan drehte sich zu ihr um und schloss dabei das Notebook. Die Papiere vom Vorabend lagen zu einem Haufen zusammengeschoben übereinander. «Setz dich! Das Frühstück ist noch warm.»
Vivianne erinnerte sich an Morgans Bemerkung über seine Vorliebe für frisch aus der Quelle sprudelndes Blut. Sie sah sich misstrauisch um, aber wenn sie erwartet hatte, dass irgendwo unter der Decke ein wehrloses Opfer hing, so konnte sie beruhigt sein.
«Geht es dir besser?» Er reichte ihr eine große Tasse, aus der einst vermutlich jemand Milchkaffee geschlürft hatte, und sie legte beide Hände um das glatte Porzellan. Ein vertrauter Duft stieg auf, und mit halbgeschlossenen Augen nippte sie am Blut. Dessen Temperatur war einwandfrei und der Sauerstoffgehalt ebenfalls. Nach wenigen Schlucken fühlte sie sich wie neugeboren. «Gut genug, wenn man bedenkt, dass ich auf einem Brett geschlafen habe.»
«Ich bin dir eine Erklärung schuldig.»
Das war er in der Tat. Vivianne ließ den letzten Schluck genüsslich über ihre Zunge fließen und stellte die Tasse beiseite. Für eine Weile würde es reichen, aber in ihrem Alter brauchte ein Vampir regelmäßig größere Mengen Blut. Ihn darum zu bitten verbot ihr Stolz, und so fragte sie nur: «Nur eine?»
«Deine Wohnung wurde gestern beobachtet. Wenn der Typ nichts mit dem Einbruch zu tun
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