Der Blutkristall
arktische Kreatur in frostigem Silbergrau. Sie blinzelte und die Polarlichter verschwanden. Zwei attraktive Männer an ihrer Seite, was wollte sie mehr?
Cyron hakte sich bei ihr unter und im Gleichschritt tanzten sie die Straßen entlang, Morgan folgte schweigend. Auf einmal blieb er stehen. Cyron tat es ihm nach, als habe er nur darauf gewartet. Er lauschte in die Ferne.
«Sehr ordentliche Instinkte», lobte er. «Siehst du den Torbogen dort? Unser Freund hat den Tag in einer Dachwohnung im zweiten Hinterhof verbracht. Du kannst den Eingang gar nicht verpassen, da fehlt nämlich die Haustür.»
Morgan ging nicht geradewegs auf das Gebäude zu, sondern schlenderte die Straße entlang, blieb vor einem Gemüseladen stehen, dessen Besitzer begonnen hatte, seine Auslagen hineinzutragen. Zu Viviannes großer Überraschung kaufte der Vampir einen Apfel und plauderte kurz mit dem Mann, bevor er weiterspazierte und um die Hausecke verschwand.
«Ey, kiek ma die beeden!», flüsterte ein kleines Mädchen ihrer Freundin zu. Cyron grinste. «Komm, wir fallen hier nur auf. Dort drüben ist ein Café, da können wir auf unseren Meisterdetektiv warten.»
Wenig später nippte Vivianne an einem stillen Wasser, von dem ihr Körper zumindest einige wenige Schlucke tolerieren konnte, und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Hier sah alles so anders aus als zu Hause. Das mehrstöckige Mietshaus gegenüber war erst kürzlich renoviert worden, im Vorbeigehen hatte sie noch die frische Farbe riechen können. Es sah richtig gepflegt aus, aber am Sockel prangten bereits schwarze Zeichen, von denen vermutlich nur die Eingeweihten wussten, was sie bedeuteten. Sie hatte während ihrer Fahrt in der S-Bahn Besseres gesehen. Originelle Comics, witzige Figuren. Dies hier war nicht mehr als ein hässliches «Ich war auch hier». So etwas tat jeder Hund. Natürlich gab es in Paris auch Graffiti, in manchen Stadtteilen nicht zu knapp, aber eben nicht in ihrem Umfeld. Selbst die Mutigsten wagten es selten, sie wurden schwer bestraft, und bis zum nächsten Morgen hatte man ihre Spuren meist gelöscht. In Viviannes Nachbarschaft kleideten sich die Damen und Herren elegant, bevor sie auf die Straße gingen. Sie hätte nicht sagen können, wo sich der nächstgelegene Supermarkt befand. Wo ihre Haushälterin die Kekse für Nabrah kaufte oder die Möbelpolitur erstand, war ihr gleich. Hier hingegen schien es zum guten Ton zu gehören, dass ein jeder für sich selbst sorgte und dabei so schräg wie möglich aussah. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie in einer Kneipe wie dem Limbus gewesen, und wenn es nach ihr ging, dann blieb der heutige Besuch auch eine einmalige Angelegenheit. Aber damit nicht genug, diese Stadt schien einem ganz anderen Rhythmus zu folgen als ihr geliebtes Paris. Tatsächlich waren ihr einige weit auffälligere Sterbliche begegnet als ihre beiden gewiss nicht zu übersehenden Begleiter, und allmählich begann Vivianne zu erkennen, dass sie es war, die nicht in diese urbane Umgebung passte, während sich Morgan und sogar Cyron bestens in das Straßenbild einfügten.
«Sieht eigentlich die ganze Stadt so aus?», fragte sie, als drei Jungs vorbeischlenderten, von denen einer bis zum Hals tätowiert war. Ehrensache, dass er den Rest der Welt ebenfalls mit seinem Körperschmuck erfreuen wollte und deshalb trotz des kühlen Abends nur eine viel zu kleine Lederweste über dem mächtigen Oberkörper trug.
«Kreuzberg ist seit Jahren in der Szene beliebt, daran hat sich auch nach dem Fall der Mauer nicht viel geändert, obwohl die Straßen und viele Häuser renoviert wurden. Wer es schicker will, der zieht in den Osten nach Prenzlauer Berg. Dort ist es aber inzwischen ziemlich teuer. Kreuzberger Mieten sind immer noch niedrig und entsprechend wohnen hier auch viele ärmere Leute, Studenten und junge Künstler.»
Das erklärte einiges. «Woher weißt du so viel darüber?»
«Ich habe in den zwanziger Jahren schon einmal in Berlin gewohnt und die Stadt von Anfang an geliebt. Deshalb bin ich auch später oft hierher gekommen. Jetzt bin ich wieder da.»
«Was für ein Zufall.»
«Was denkst du?» Er lachte. «Hier gibt es die besten Clubs, Kneipen und Bars, neue Galerien, und viele junge Leute aus aller Welt ziehen her. Eine treffliche Tarnung für jemanden wie mich. Schade, dass ich mir einen anderen Job suchen muss.»
«Warum?»
«Seit die Menschen so überaus mobil sind, läuft man leicht Gefahr, wiedererkannt zu werden. Aber in
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