Der Blutkristall
wer sein Freund wirklich war?
«Er weiß es. Und was die anderen betrifft – die Wenigsten ahnen, mit wem sie es zu tun haben, und falls doch, dann ist es zu spät.» Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, sank die Temperatur schlagartig. Neben ihr manifestierte sich ein Krieger aus Licht und Eis. Mit erhobenem Schwert stand er da, bereit seinen tödlichen Schlag auszuführen. Vivianne erbebte unter einer niemals zuvor gekannten Furcht. Doch bevor sie über Flucht oder Gegenwehr nachdenken konnte, war der Spuk ebenso schnell, wie er gekommen war, wieder vorüber. Und der Mann, den sie seit Jahren für einen liebenswerten Barkeeper gehalten hatte, saß entspannt neben ihr und löffelte den Schaum von seinem Cappuccino. Im Augenwinkel sah sie einen Gast das Café betreten, der die Hände aneinanderrieb und dem Kellner zurief: «Ist das kalt geworden. Zeit die Heizung anzuschmeißen, mein Alter.»
Vivianne wusste, was er meinte, ihr schien es, als sei ihre Seele in den wenigen Sekunden der Machtdemonstration des Lichtelfs eingefroren. Sie sehnte sich nach einem großen Schluck Blut, am besten einer ganzen Badewanne, bis zum Rand gefüllt mit dem Lebenssaft in exakt siebenunddreißig Grad Körpertemperatur. «Ich sage nichts.» Ihre eigene Stimme wirkte fremd, unsicher räusperte sie sich.
«Natürlich nicht.» Cyron klang, als habe er weniger Zweifel an ihrer Verschwiegenheit als sie selbst.
Kein Wunder. Bis ich den Mund aufgemacht habe, um ihn zu verraten, bin ich längst tot. Und meine Gedanken kann er auch noch lesen. Aber Vivianne hätte den Elf selbst ohne die beeindruckende Demonstration seiner Macht nicht verraten, denn er war ihr über die Jahre wirklich zum Freund geworden. Wahrscheinlich dem einzigen.
Cyron hatte ihr Mienenspiel beobachtet und war zufrieden mit dem, was er darin las. Er beugte sich vor und drückte ihr eine Münze in die Hand.
Ratlos blickte Vivianne ihn an. Sie fühlte sich noch ein wenig schwindelig von der Erkenntnis, wie nahe sich Licht- und Dunkelelfen in Wahrheit waren. Beide gehörten zu einem Volk von Kriegern, mit einer langen Tradition des Tötens. Genau wie es die alten Geschichten überlieferten. Sie wollte gar nicht wissen, welche Folgen eine Schlacht zwischen ihren Völkern in der heutigen Zeit haben würde. Immer noch erschüttert, aber zumindest mit ruhiger Hand nahm sie das edle Metall entgegen und betrachtete es. Sonne und Mond waren darauf abgebildet. Zwei winzige Sterne standen für den Morgen- und den Abendstern, den Rand zierte ein filigranes Muster aus endlos verschlungenen Linien. Sie sah dieses Symbol nicht zum ersten Mal. «Woher ...?»
«Sieh her», unterbrach Cyron ihre Frage. Er nahm den Zuckerstreuer, schraubte ihn auf, ließ den Inhalt vor sich auf den Tisch rieseln und zog anschließend eine Linie hindurch. Dann zeichnete er genau darüber mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine liegende Acht. Dabei sagte er: «Das Leben ist wie dieses Symbol der Ewigkeit, und ebenso ist es mit allem, was uns lieb und wichtig ist. Mal ist es unter der Oberfläche verborgen ...», sein Finger folgte einem unteren Bogen und stieg dann auf, bis er die Linie kreuzte, «... und dann wieder strebt es dem Licht zu und erfreut uns mit seinem Glanz.» Er sah Viviannes ratloses Gesicht und lachte. «Verzeih, unsere Art zu denken, ist eine andere als die der Sterblichen, mit denen du normalerweise Umgang pflegst. Lange vor unserer Zeit haben Künstler aus dem Feenreich diese Amulette entworfen. Wann immer du meine Hilfe brauchst, reibe daran und du wirst mich finden.»
Vivianne erinnerte sich. Nach der Herkunft dieser Talismane hatte sie aber niemals gefragt. Sie hätte gerne mehr erfahren, aber Cyron wischte den Zucker mit einer entschiedenen Handbewegung beiseite, als wolle er ihr bedeuten, das Thema sei buchstäblich vom Tisch. Sie warf einen letzten Blick auf die Münze, bevor sie sie in die Tasche steckte. Cyron folgte jeder ihrer Bewegungen und nickte dann. «Vivianne, du musst verstehen, dass der Blutkristall nicht in falsche Hände gelangen darf. Er ist wichtig, nicht nur für deine Familie, sondern auch für mein Volk.»
«Aber warum hast du ihn dann dem Dieb nicht abgenommen?»
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob den langen Vorhang silberner Haare beiseite, der sein Gesicht fast verdeckte. Trotz der kühlen Miene, die er zur Schau stellte, wirkte er verdrossen. «Ich kann mich nicht einmischen.»
Deshalb also hatte er vorhin nicht verraten, dass er
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