Der Blutkristall
war über die Landesgrenze bekannt für seine extravaganten Bälle, aber man zog sich dafür stets in eines der abgelegenen Schlösser zurück, von denen es in Frankreich trotz der Revolution noch erstaunlich viele gab.
«Warum?», fragte Morgan, der verächtliche Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. «Die halbe Stadt feiert mit.»
«Sie laden ganz normale Menschen ein?»
«Und nicht alle von ihnen erleben den morgigen Tag. Das kannst du mir glauben.»
«So etwas müsste dir doch gefallen.» Unwillkommen drängte sich ihr die Erinnerung auf, wie er im Limbus vor aller Augen von der rothaarigen Frau getrunken hatte. Und sie fragte sich, ob sie ihm zum Opfer gefallen wäre, hätte Vivianne nicht nach ihm gerufen. Diese Überlegung wühlte sie auf, ebenso wie die erotischen Bilder jener Nacht.
Er las mühelos ihre Gedanken. Das war etwas anderes. Laut sagte Morgan: «Natürlich hast du recht, es ist riskant, Sterbliche so nahe an uns heranzulassen. Du wirst heute mit eigenen Augen sehen können, was sich diese geborenen Vampire inzwischen herausnehmen. Ihre unglaubliche Arroganz ist unfassbar, und es scheint ihnen völlig gleichgültig zu sein, dass sie uns damit alle in Gefahr bringen. Sie glauben, über allem zu stehen, aber das wird eines Tages ihr Untergang sein.» Er sah sie aufmerksam an. «Du tust gut daran, dies niemals zu vergessen, wenn du dich weiter mit ihnen einlässt.» Es hätte nicht viel gefehlt und der Vampir hätte ausgespuckt.
Aha, daher weht der Wind, dachte Vivianne. Die Dunkelelfen waren also das Problem. Gut, dass Morgan nicht ahnte, dass er hier gerade mit dem «Klassenfeind» sprach. Dennoch hatten seine Worte sie nicht kalt gelassen. Eine Blutorgie war das Letzte, was sie in dieser Nacht erleben wollte. «Können wir nicht einfach wieder verschwinden?»
«Hast du schon vergessen, warum wir hier sind?»
Bevor sie ihm eine schnippische Antwort geben konnte, erschien ein dunkler Schatten am Nachthimmel. Vivianne blickte überrascht auf, als sich ein Rabe auf einem Ast über ihnen niederließ. Gerade weit genug entfernt, dass ein heimlicher Beobachter sich nichts dabei denken würde. Salut, Nabrah. Sag nicht, du bist den ganzen Weg aus Paris geflogen.
Bonsoir, mein Herz. Paris ist ohne dich so fad. Er gab ein keckerndes Geräusch von sich. Der Dieb ist eingetroffen. Er sitzt mit wenig kleidsamen Handfesseln vor einem Vampir namens Carl und redet sich um Kopf und Kragen.
Hat er ihn dabei? Vivianne konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann so leichtsinnig war. Nabrah legte seinen Kopf schief, und sie beeilte sich zu sagen: Morgan weiß Bescheid.
Sehr vernünftig, mein Herz. Ob er den Blutkristall dabei hat? Ich würde darauf wetten. Andernfalls wäre er längst tot und der Stein verloren. Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, breitete Nabrah seine Schwingen aus und ließ sich vom Baum fallen, bis ihm der Wind unter die Flügel griff und er sich mit wenigen Flügelschlägen in die Luft erhob, um sich von einer Bö davontragen zu lassen. Vivianne hätte gern gewusst, was er mit der letzten Bemerkung gemeint hatte. Doch Morgan sah zur Uhr, und sie stellte das unberührte Glas ab. Kostbare Zeit war vergangen, und sie tat gut daran, sich zu beeilen, wollten sie nicht zu spät kommen.
Er lehnte lässig am Tresen der kleinen Küchenzeile, als sie endlich die Tür des Schlafzimmers öffnete, wo sie die letzte Dreiviertelstunde verbracht hatte. Und sie freute sich, dass der Vampir sie anstarrte, als habe er eine Erscheinung.
«Ist es nicht angemessen?» Vivianne fühlte sich von seinem ausdauernden Schweigen schließlich verunsichert. Sie hatte nach kurzer Überlegung eine tiefrote Kreation gewählt. Wenn diese Provinzler sie schon für eine Kurtisane hielten, dann sollten sie ruhig sehen, wie so jemand in Paris auftrat. Der raffinierte Schnitt des langen Kleides zeigte wenig Haut, aber die matt glänzende Seide glitt über ihren Körper wie die Hände eines Liebhabers. Dieses Kleid offenbarte mehr, als es verbarg, und ein Schlitz zeigte gerade so viel Bein, dass es noch schicklich war. Die Farbe tat das Ihrige, um den Betrachter zu faszinieren, und ließ Viviannes Teint wie frisch gefallenen Schnee leuchten. Dazu balancierte sie auf schwindelerregend hohen Sandalen und hatte außer dem schmalen Armreif, den sie immer trug, als einzigen Schmuck ihr dunkles Haar mit einem schlichten Hornkamm hochgesteckt. Nur sie allein wusste, dass auch eine winzige Prise Glamour ihren Zauber
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