Der Blutkristall
Gedanken einzudringen. Doch es dauerte nicht länger als einen Herzschlag, da ließ der Druck wieder nach und die Pförtnerin schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. «Willkommen, Mademoiselle!» Sie sprach etwas in zackigem Befehlston in ein Mikrofon an ihrem Revers und blickte dabei auf ihren Bildschirm. Offenbar entdeckte sie dort nichts Nachteiliges, denn ihr Lächeln vertiefte sich. «Wir sind erfreut, Sie in unserem Département begrüßen zu dürfen. Möchten Sie länger bleiben?»
Vivianne sah zu Morgan, der ihr aufmunternd zublinzelte. «Das hängt ein wenig von den Umständen ab.»
Der Empfangsdame war dieser kurze Austausch nicht entgangen und sie runzelte die Stirn. «Sie wohnen im Hotel Nodal, nehme ich an.» Die erste Adresse der Stadt, das wusste selbst Vivianne. Neu war ihr, dass es sich dabei um einen so genannten «sicheren Hafen» handelte. Einem jener Hotels weltweit, die sich auf die Beherbergung von Vampiren und anderen nachtaktiven oder zumindest magischen Kreaturen spezialisiert hatten. Vivianne lächelte freundlich, sagte aber nichts.
«Ich verstehe. In diesem Fall steht Ihnen natürlich ein Zimmer in unserem Haus zur Verfügung, bis Sie entsprechende Arrangements getroffen haben.»
«Herzlichen Dank! Wenn Sie jetzt die Güte hätten, mich anzumelden.» Vivianne legte gerade die Portion Ungeduld in ihre Stimme, die sich ein Protegé der gefürchteten Causantín-Brüder erlauben durfte. Sie war insgeheim allerdings heilfroh, dass offenbar niemand ihre Anreise vor zwei Tagen protokolliert hatte. Eine solche Verzögerung hätte selbst sie sich nicht erlauben dürfen, aber sie hatte tatsächlich einfach vergessen, sich beim Statthalter anzumelden. Dass Morgan sie auch nicht daran erinnert hatte, überraschte sie allerdings nicht, er schien es mit der Etikette ohnehin nicht so genau zu nehmen.
Während des Gesprächs flogen die Finger der uniformierten Vampirin unentwegt über die Tastatur, und Vivianne hatte keinerlei Zweifel, dass ihr Datenblatt neue Einträge erhielt.
«Sie werden bereits erwartet, Mademoiselle.» Die Pförtnerin reagierte wie gewünscht. Ihr Französisch klang gut, nur winzige Abweichungen in der Betonung wiesen darauf hin, dass sie diese Sprache in einem anderen Jahrhundert gelernt hatte. «Wünschen Sie, dass Morgan Llwchmynydd of Anglesey Sie begleitet?»
Vivianne hätte beinahe einen Lachanfall bekommen. So konnte doch nicht wirklich jemand heißen? «Ähm, ja», war alles, was sie einigermaßen kultiviert hervorbringen konnte.
Der Wachmann mit den nervösen Augen bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Seite an Seite gingen Sie hinter ihm einen elegant geschwungenen Weg entlang, bis das Hauptgebäude schließlich zwischen hohen Bäumen auftauchte. Alle Räume im Erdgeschoss waren erleuchtet und die Auffahrt säumten Fackeln. Es sah sehr festlich aus. Was dort mitten in einer gepflegten, weitläufigen Parkanlage stand, ähnelte schon eher einem verspielten Lustschlösschen als einer Villa, fand Vivianne. Und sie konnte das beurteilen, immerhin war sie in einem echten Schloss aufgewachsen.
«Vivianne Cirta und Begleitung», wurden sie angekündigt, und Morgans Hand auf ihrer Taille versprach Sicherheit. Was ihr nicht unwillkommen war, denn die hohen Türen öffneten sich und gaben den Blick auf einen Thronsaal frei, den sie gleich darauf auch betraten. Am anderen Ende saß ein ungeheuer hässlicher Vampir in seinem goldenen Sessel und ließ sich gerade ein Tablett mit gefüllten Gläsern reichen. Ein vertrauter Geruch wehte herüber, vom Duft kostbarer Räuchereien schlecht kaschiert, der aus mächtigen Schalen aufstieg, die rechts und links aufgestellt waren. Es brauchte wenig Fantasie, um sich vorzustellen, was der Herrscher dieses eigentümlichen Szenarios verkostete. Dekadent! Morgans Gedanke kreuzte sich mit den ihren, und in dieser Sekunde fühlte sie sich ihm auf nahezu intime Weise verbunden.
Der Statthalter winkte sie mit einer fleischigen Hand heran, und sie folgten der Einladung mit nicht ganz ehrlichem Selbstbewusstsein – jedenfalls galt dies für Vivianne.
«Da haben wir also die kleine Maitresse der Causantíns.» Eine Beleidigung, diese Dinge sprach man nicht aus. «Sehr hübsch. Und du möchtest dich umorientieren?» Er lachte anzüglich. Der Mann neben ihm, offenbar sein Assistent, beugte sich herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. «Natürlich, zwanzig Jahre in Paris, das ist ein wenig lang. Die Jugend macht immer die gleichen Fehler.»
Sie wäre
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