Der Blutkristall
durften. Hier musste etwas geschehen, und zwar bald. Sobald die Jagd nach dem Blutkristall hinter ihr lag, würde sie ein ernstes Wort mit Kieran sprechen.
Trotz allem begann sie sich in Berlin wohlzufühlen. Dieser Ort hatte ein gewisses Flair, und die Vorstellung, die nächsten Jahre hier zu leben, erschien ihr gar nicht mehr so abwegig wie noch vor zwei Tagen. Aber Morgan hatte recht, der Statthalter gefährdete alle Vampire, die unter seinem Schutz standen, und sie verstand nicht, warum sie sich dies gefallen ließen.
Morgan berührte sachte ihren Arm. Ich bin bald wieder da, amüsier dich gut. Das verabredete Zeichen. Danach verschwand er in der Menge, und
Vivianne gesellte sich zu einer Gruppe von Sterblichen, die gebannt den Darbietungen chinesischer Artisten zusah. Bald begann sie sich zu langweilen. Morgan würde gewiss noch eine Weile fortbleiben, also stellte sie ihr leeres Glas ab und schlenderte durch die Räume. Bluttrinker wie Sterbliche plauderten angeregt miteinander, und Vivianne traute ihren Augen nicht, als ein Vampir sich über den Hals seiner entrückt lächelnden Tanzpartnerin beugte und ihr hier vor aller Augen in den Hals biss!
Als spürte er ihr erschrockenes Starren, sah er auf. Ihre Blicke trafen sich, und der Vampir besaß die Frechheit, ihr zuzuzwinkern, bevor er mit einem Zungenschlag die Wunde schloss und sein Opfer im Takt der Musik wiegte, bis sie beide durch die hohen Fenster in der Nacht verschwunden waren.
«Gefährlich, nicht wahr?» Vivianne fuhr herum und verfluchte ihre Unaufmerksamkeit. Hinter ihr stand ein Vampir mit zwei Champagnergläsern. «Ich habe leider die Audienz verpasst – schrecklich diese Zeremonien der alten Welt.» Er lächelte. «Bei mir zu Hause sind wir inzwischen deutlich weniger formell.» Er musterte sie aufmerksam und Vivianne spürte seinen Versuch, ihre Gedanken zu ergründen. Sie runzelte ihre Stirn und er zog sich zurück. «Ah, vergebt mir. Schrecklich unhöflich diese Neugier. Und vorgestellt habe ich mich auch noch nicht. Er machte eine elegante Verbeugung. «Gestatten, Rochester. Und ich habe das Vergnügen mit ...?»
«Vivianne.» Sie nahm den angebotenen Champagner – davor hatte Morgan sie nicht gewarnt –, trank einen Schluck und musterte ihn dabei über den Rand ihres Glases. Das Wappen auf dem Siegelring erkannte sie. Er gehörte einer stolzen Familie von Dunkelelfen an. Kein Wunder, dass er seine Identität so unerschrocken preisgab. Vermutlich , überlegte sie, kannte ihn hier sowieso jeder. Der Earl of Rochester war in seinem Abendanzug die Eleganz selbst. Aristokratische Geschmeidigkeit bis in die manikürten Fingerspitzen. Nichts verriet seine wahre Natur, wenn er, wie in diesem Augenblick, mit treuem Augenaufschlag ihren prüfenden Blick erwiderte. Irgendetwas an der Art, wie er eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht schob, weckte ihre Erinnerung, aber sie kam nicht drauf. Es würde ihr gewiss wieder einfallen, jetzt waren alle ihre Sinne gefragt. Doch auch so wusste sie schon, was von ihrem Gegenüber zu halten war. Er gab zwar bis zum Akzent eine gute Vorstellung als gelangweilter New Yorker, tatsächlich war er jedoch Brite und stammte aus Oxfordshire, wenn sie sich recht erinnerte. Sollten die Gerüchte stimmen, dann befand sich dieser Dunkelelf auf der Suche nach einer Seelengefährtin, und dabei ging er nicht zimperlich vor. Es hieß, er sei ehrgeizig und bereit zu erzwingen, was ihm die Schicksalsgöttinnen bisher vorenthalten hatten. Genau die Sorte Mann also, vor der ihre Brüder sie ganz besonders gewarnt hatten. Fände er heraus, wer sie wirklich war, würde er sich nehmen, was er für sein gutes Recht hielt. Und Vivianne war nicht erpicht darauf, als Zuchtstute eines Größenwahnsinnigen zu enden. Wäre die Verbindung zwischen ihr und einem geborenen Vampir erst einmal besiegelt, dann hätte selbst ihre Familie keinerlei Handhabe mehr, den Bund für die Ewigkeit zu lösen. Natürlich blieb immer noch die Möglichkeit, dass sie ihren Gatten tötete, aber damit wäre nicht nur ihr eigenes, sondern das Schicksal der gesamten Familie Causantín besiegelt. Der Rat reagierte auf Verstöße gegen die Regeln wenig verständnisvoll und machte in diesem Fall auch keinerlei Unterschied zwischen ganz normalen Vampiren und lang gedienten Vengadoren. Zudem, so tuschelte man in der vampirischen Welt, besaß und vermehrte Rochester nicht nur diverse britische Adelstitel, er beherrschte darüber hinaus auch die schwarzen
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