Der Blutkristall
Hortense für ihre Party engagierte hatte, in einem ganzen Jahr verdiente. Man hätte meinen können, Vivianne befände sich in einem verruchten Kellerlokal der zwanziger Jahre.
«Salut, Cyron! Seit wann arbeitest du denn hier?» Sie trank gierig, und er zuckte nur mit den Schultern. «Mal hier, mal da. Ich bin dort, wo ich gebraucht werde und wo es sich auszahlt!» Er machte eine entsprechende Bewegung mit den Fingern.
Vivianne traf Cyron seit Jahren immer wieder in den schicksten Bars der Stadt, wenn auch immer auf der anderen Seite des Tresens. Sie nahm einen weiteren Schluck und lehnte sich über die Theke. «Sag mal, kommt es mir nur so vor oder werden Hortense’ Freunde von Mal zu Mal langweiliger?»
«Mahl? Wenn die Maus satt ist, schmeckt das Mehl bitter.» Cyron schmunzelte und wandte sich von ihr ab, um eine Blondine zu bedienen, die mit langen Fingernägeln auf das polierte Holz trommelte und ungeduldig ihre Federboa über die Schulter warf, als sie endlich ihr Getränk erhielt und damit wieder in der Menge verschwand. Anschließend schob er Vivianne ein weiteres Glas zu. «Ma Puce, du bist leichtsinnig!»
«Wie bitte?»
«Wann bist du transformiert worden?» Bevor ihr Gesichtsausdruck sie verraten konnte, kümmerte er sich bereits um weitere Bestellungen. Schließlich kehrte er zu Vivianne zurück. «Lass mich raten: zwanzigstes Jahrhundert, Swinging Sixties?» Er machte eine Handbewegung in den Raum hinein. «Ich möchte wetten, das hier ist alles so neu für dich wie für alle anderen Gäste auch.» Vivianne versuchte sich an ihrem besten Mona-Lisa-Lächeln, und er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. «Eine Sanguine-Novizin also, habe ich es mir doch gedacht. Lass dir von jemandem gesagt sein, der sehr viel länger in diesem Geschäft ist als du: Für dich wird es Zeit weiterzuziehen. Einem Barmann bleibt wenig verborgen, und über dein jugendliches Aussehen redet Paris schon seit geraumer Zeit.» Cyron zauberte eine makellose Schaumkrone auf das Bier in seiner Hand und stellte es vor einem Gast am anderen Ende der Bar ab. Er nahm diesen Job sehr ernst. Vivianne zupfte ihr Kleid zurecht. Sie hasste die abschätzigen Blicke, die ihr einige junge Frauen zuwarfen. Für diese Mädchen war sie eine alte Schachtel, zu der man nett sein musste, weil sie Einfluss hatte. Sie sahen nicht hinter ihre sorgsam gepflegte Fassade aus Couture, Make-up und Schauspielkunst. «Es ist ein Wunder, dass man mich überhaupt eingelassen hat.»
«Glaubst du das wirklich? Die Chefin von ‹Vivianne‘s› hat überall in Paris Zutritt, egal wie sie sich kleidet. Und du, meine Kleine, siehst wie immer bezaubernd aus.» Er tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.
Vivianne schielte und sah dann weg. Ihr Blick fiel auf einen Unbekannten, der bestimmt nicht zu Hortense’ üblicher Gefolgschaft gehörte. Obwohl er sich mit dem gleichen Selbstverständnis wie die anderen Gäste bewegte und nicht den Eindruck erweckte, hier fremd zu sein, war sie sicher, dass er sich verlaufen hatte. Die Türsteher hatten ihn allerdings passieren lassen, und niemand machte Anstalten ihn hinauszuwerfen. Es kam Vivianne vor, als würde ihn außer ihr überhaupt niemand bemerken. Und als die Chefredakteurin eines unbedeutenden Modeblatts, die sich bisher mehr durch ihr ausgeprägtes Interesse an potenziellen Bettgefährten als durch ihre journalistische Arbeit hervorgetan hatte, geradeaus durch ihn hindurchsah, wusste Vivianne, dass dies kein normaler Sterblicher sein konnte. Sein dunkelblondes Haar wirkte, als habe die Sonne Lichter hineingeküsst, bevor es von reichlich Salzwasser ausgetrocknet worden war. Mit der verwaschenen Jeans und einem T-Shirt, auf dem nur noch schwach die Konturen eines Totenkopfes zu erahnen waren, hätte man ihn für einen deplatzierten Surfer halten können, aber da war nichts von der Leichtigkeit eines Wellenreiters. Vielmehr verriet die Art, wie er sich hielt, den Kämpfer – jemanden, der lange genug auf der Straße gehaust hatte, um zu wissen, wie man im Großstadtdschungel überlebt. Aber statt, wie sie es erwartet hätte, sehnsüchtig den Luxus seiner Umgebung zu betrachten, las Vivianne Abneigung, für einen Augenblick sogar Hass in dem merkwürdig symmetrischen Gesicht. Dann trafen sich ihre Blicke für die Dauer eines Wimpernschlages, und das angedeutete Lächeln, das sie in seinen Augenwinkeln entdeckte, hätte weitaus erfahreneren Frauen die Knie weich werden lassen. Seine sehnige Gestalt
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