Der Blutkristall
überrascht davon, dass die kindliche Begeisterung seiner neuesten Eroberung sein Herz zu berühren vermochte. Anstelle der Akrobaten sahen sie nun kaum bekleidete Tänzer auf den Podesten. Sie rieben sich wollüstig aneinander, leckten oder bissen sich, und es war nicht zu übersehen, dass sie die schamlosesten erotischen Fantasien auslebten. Vivianne fand dieses Zurschaustellen intimster Details anfangs befremdlich. Doch bald ließ sie sich von der knisternden Atmosphäre einfangen, bis ihr Atem schneller ging – ein Relikt aus alten Zeiten, das niemals seine Wirkung auf Männer, sterblich oder nicht, verfehlte. Sebastian erging es nicht anders. Er stand ganz nahe, als hoffte er, auf diese Weise an ihrer Erregung teilhaben zu können. «Gefällt es dir? Sieh genau hin, dies ist unsere Welt.» Er legte seine Hände auf Viviannes Schultern, schob sie vor sich her, dichter an ein kopulierendes Paar heran. Sex lag in der Luft – der schwüle Duft war widerlich und doch voll süßer Versprechungen. Vivianne war ein sinnliches Geschöpf, jede Faser ihres Körpers reagierte auf die eindeutigen Reize. «Wie ist das möglich?» Ihre Stimme klang fremd. Sebastian lächelte, eine Novizin. Aber mit der Fähigkeit zu leidenschaftlicher Hingabe. Und da waren Geheimnisse. Gut. Je stärker sich eine Frau ihm widersetzte, je länger es dauerte, bis sie sich seiner Macht ergab, desto köstlicher der Sieg. «Es ist doch nur ein Spiel. Sieh genau hin: ein harmloses Vergnügen, nichts weiter», flüsterte er und seine Lippen berührten dabei beinahe ihren Hals.
Sebastian drängte sich näher an sie heran, und Vivianne wusste, dass sie mit dem Feuer spielte. Es war nicht richtig, was sie hier tat, und sie sollte lieber wieder in die Sicherheit ihrer Welt zurückkehren. Doch was war Wirklichkeit, was Trug, und warum gab sie nicht einfach ihren Instinkten freien Lauf? Sein Körper fühlte sich so gut an und gab ihr Halt, und sie war doch schwach, ihre Glieder gehorchten ja nicht einmal mehr ihrem Willen. Sie konnte spüren, wie ihre mentalen Barrieren unter seinen Händen zu schwinden begannen, eine nach der anderen wurde transparenter, bis sie es kaum noch erwarten konnte, dass endlich jemand ihr wahres Ich erkannte. Nein! Ein kurzer Schmerz am Handgelenk. Die Tore zu ihrer Seele schlugen so kraftvoll zu, dass ein leichtes Beben durch ihren Körper ging, als die schweren Riegel geschmiedet aus unsichtbarer Magie und jahrelanger Disziplin einrasteten. Erschrocken riss sie die Augen auf. Beinahe hätte sie einen möglicherweise tödlichen Fehler begangen. Dieser Sebastian war gefährlich, umso mehr, als er es sich nicht anmerken ließ, wie sehr es ihn ärgerte, dass sein erster Verführungsversuch gescheitert war. Nur eine kurze Reaktion seines Körpers, ein Innehalten in der Bewegung hatte ihr verraten, dass sein Ego empfindlich getroffen war. Er würde es wieder versuchen, daran zweifelte sie nicht. Solche Männer gaben niemals auf. Doch nun war Vivianne gewarnt und würde auf der Hut sein.
Vor ihnen kämpften zwei Vampire miteinander, und sie ahnte, entgegen der Beteuerungen ihres nun wieder charmant flirtenden Begleiters, dass es um Leben und Tod ging. Nichts anderes, das war ihr klar, würde die blutdürstige Meute um sie herum befriedigen.
Die Kämpfer bewegten sich, als habe die Schwerkraft keinerlei Bedeutung für sie. Einer war komplett in Rot, der andere in Weiß gekleidet. Sie waren etwa gleich groß und standen sich in nichts nach, was ihre eleganten, präzisen Bewegungen betraf. Bis plötzlich der Rote ausholte und seinem Gegner mit einem präzisen Schnitt die Kehle durchtrennte. Ein Blutschwall besudelte das weiße Hemd, Viviannes Hand fuhr zum Mund und neben ihr keuchte eine Sterbliche entsetzt auf. Völlig verroht waren die Blutsklaven also nicht. Doch schon sprang das vermeintliche Opfer von der Bühne, verbeugte sich und die Kämpfer verschwanden Arm in Arm in der Dunkelheit. Ein treibender Beat versetzte die Zuschauer immer weiter in Ekstase, als ein neuer Darsteller erschien: Carl, die rechte Hand des Statthalters. In seinem Anzug wirkte er wie ein Börsenmakler, kühl, konzentriert und unantastbar. Er ließ den Blick über das blutrünstige Tier gleiten, zu dem die Menge geworden war. Voller Verachtung hob er sein Kinn ein wenig höher und schien dort, weit hinter Vivianne jemandem zuzunicken. Es war kein freundliches Lächeln, das seine Mundwinkel kaum sichtbar hob. Doch das Publikum kümmerte es nicht. Auch
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