Der Blutkristall
Salais Aura war in den kahlen Räumen kaum noch zu spüren. Ganz offensichtlich hatte er sich einen anderen Unterschlupf gesucht. Ihr wurde klar, dass sie so gut wie nichts über ihn wusste. Morgan hatte ihr viele Erklärungen versprochen, doch sobald sich eine Gelegenheit ergeben hatte, diese einzufordern, war ihnen irgendwie immer die Erotik in die Quere gekommen.
Anstatt systematisch nach dem Räuber ihres wertvollsten Besitzes zu suchen, hatte sie sich von Sebastian umgarnen lassen, mit Morgan geflirtet und sich darauf verlassen, dass irgendwie alles gut werden würde. Aber nichts war passiert. Selbst als sie Salai endlich erwischt hatten, und dies war auch mehr Cyron zu verdanken als ihrer Kampfkraft, war sie schuld daran gewesen, dass er wieder hatte fliehen können. Hätte sie regelmäßig getrunken, wie das für eine junge Vampirin eben erforderlich war, und nicht diesen albernen Schwächeanfall erlitten, wäre auch die Furie nicht aufgetaucht und hätte ihn wieder laufen lassen. Was hatte sie gesagt? Der Blutsack , also Salai, sei verhext gewesen. Aber wie konnte das sein? Als Cyron ihn am Vorabend durchsucht hatte, trug er scheinbar nichts Bemerkenswertes bei sich. Dennoch hatte sie in seiner Gegenwart den Blutkristall so deutlich spüren können, als läge er in ihrer eigenen Handfläche. Sie lehnte sich an eine kühle Wand und begann zu überlegen.
Systematisch durchforstete sie das einzigartige kollektive Bewusstsein ihrer Familie, auf das sie noch niemals außerhalb der täglichen Übungsstunden mit ihrem Kindermädchen, und später auch mit ihren Brüdern, zurückgegriffen hatte. Ganz behutsam ging sie vor, gewissermaßen wie auf Samtpfoten, um unterwegs nicht zufällig einem ihrer Verwandten zu begegnen und in Erklärungsnot zu geraten. Diese Erinnerungen waren wie eine riesige Bibliothek, zu der nur Zugriff hatte, wer zu ihrem Clan gehörte. Vivianne machte sich auf den Weg durch die langen Gänge, öffnete jede Tür, hinter der überlebenswichtiges Wissen lagerte, entrollte alle Pergamente, derer sie habhaft wurde und sah in jedes Buch, in dem das Gesuchte notiert sein konnte. Doch so sehr sie sich auch bemühte, von dem Geheimnis des Blutkristalls war keine Spur zu entdecken. Und dann, als nur noch wenige Schubladen im Saal der Geheimnisse übrig waren, kam die Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Sie wusste auf einmal, dass der Rubin früher auch « Die Sonne der Feen » genannt worden war. Und diese Bezeichnung verdankte er weniger seinen magischen Fähigkeiten als einer uralten Überlieferung. Als eine seiner ursprünglichen Besitzerinnen verfolgt wurde, hatte sie versucht, die Magie des Steins zu beschwören, indem sie ihn auf einen Punkt auf ihrem Körper legte, der auch als Solarplexus bekannt war. Er sei dort eingesunken, hieß es, und sie habe mit seiner Hilfe im Schutz der Dunkelheit fliehen können. Schon ihre Vorfahren allerdings hatten diese Sage vom Blutkristall für reinen Unsinn gehalten. Vivianne war nicht so leicht davon zu überzeugen, dass ihre Ahnen recht gehabt hatten. Zu viele Indizien sprachen dafür, dass an der Sage etwas dran sein könnte. Ihre Familie war erst lange nach dem großen Zerwürfnis zwischen den Feen, also den Lichtelfen, und ihren Verwandten, den Dunkelelfen, in den Besitz des Juwels gekommen. Völlig legal, so behaupteten die Causantíns zumindest. Woher sollten sie dann aber wissen, welchen Weg der Blutkristall zuvor gegangen war? So sehr sich Vivianne das Hirn zermarterte, sie fand keine Antwort auf die Frage, wie er den Körper jener Fee wieder verlassen haben sollte.
Fest stand, dass dies nicht durch die Zerstörung seines Wirts geschehen durfte. Denn davor warnten alle Überlieferungen: Der Tod seines Trägers führte unweigerlich zur Zerstörung des Juwels. Was wiederum nur bedeuten konnte, dass der magische Schutz durch den Blutkristall limitiert war, anderenfalls wäre der Träger unverwundbar gewesen, und solche Wesen starben nicht. Und es legte die Vermutung nahe, dass der Dieb entweder im Auftrag der Lichtelfen handelte, von denen es immer einige darauf anlegten, den fragilen Frieden zwischen ihren Völkern zu stören, oder womöglich selbst ein Elf war. Ebenso wie Cyron.
Viviannes Knie gaben nach und sie ließ sich an der Wand in ihrem Rücken hinabgleiten. Das würde erklären, warum er Morgan das Versprechen abgenommen hatte, Salai nichts anzutun. Warum war das so wichtig, immerhin hätte Vivianne dem Kerl ebenso einfach seinen
diebischen Hals
Weitere Kostenlose Bücher