Der Blutkristall
ließ das Gefährt vorüberziehen, bevor sie über die eiserne Absperrung sprang, die Passanten davor schützen sollte, überfahren zu werden. Am hinteren Ende des Platzes war eine Menschenmenge versammelt, vornehmlich junge Leute, die rauchten, fröhlich lachten und offenbar für irgendetwas anstanden. Ein Club, unmittelbar unter den Schienen der S-Bahn. Ob Salai hierher gegangen ist, kann ich nur herausfinden, wenn ich nachsehe. Vivianne bemerkte aber schnell, dass ihr Kleidungsstil sich von dem der Wartenden deutlich unterschied, und ehe sie daran dachte, mental etwas nachzuhelfen, hatte der Türsteher sie bereits abgewiesen. Das war ihr noch nie passiert. Sie dachte kurz daran, die gleiche Show abzuziehen wie vor dem Bains Douches, aber es war zweifelhaft, ob das Publikum hier ähnlich enthusiastisch darauf reagieren würde. Die Leute schienen sie nicht einmal wahrzunehmen. Da entdeckte sie eine Bar und es kam ihr eine Idee. Es war Zeit für das neue Kleid und die mörderisch hohen Absätze. Entschlossen durchquerte sie kurz darauf das Lokal und verschwand in der Toilette. Die Kleidung war im Nu gewechselt, und als dann noch eine Sterbliche auftauchte, lieh sie sich von der verdutzten Frau den Kamm und einen Lippenstift.
«Das ist hier keine Wärmestube!», rief ihr der Barkeeper hinterher, als sie kurz darauf in ihren Pumps zum Ausgang stöckelte. Aber einer der männlichen Gäste zwinkerte ihr wohlwollend zu, und kurz bevor die Tür hinter ihr zufiel, hörte sie ihn sagen: «Mensch, hast du nicht diesen grandiosen Hintern gesehen? Die könnte sich wegen mir alle paar Minuten in deinem Klo umziehen, oder noch besser in meinem Schlafzimmer.» Andere fielen in sein Lachen ein, und Vivianne musste schmunzeln. Der Gute hatte ja keine Ahnung, was er sich mit diesem Wunsch einhandeln würde.
Dieses Mal war sie erfolgreicher bei dem Türsteher, der fachmännisch ihre Figur betrachtete. Das Kleid saß wie angegossen und die hohen Schuhe betonten nicht nur ihre Beine vorteilhaft. Kate Moss jedenfalls , dachte sie in einem Anfall von Größenwahn, könnte ich fast auf den Kopf spucken.
«Die Tasche kannst du nicht mit reinnehmen.»
«Aber natürlich, ich gebe sie an der Garderobe ab.» Vivianne lächelte und schob noch einen Gedanken nach, sodass er ihr einen Stempel auf das Handgelenk drückt, als hätte sie bereits für ihren Eintritt bezahlt. Die wenigen Euro, die ihre geblieben waren, würde sie gewiss nicht für Eintrittsgelder verschleudern. Sie ging weiter in den Club. Er war nicht besonders groß und erinnerte sie mit seiner Einrichtung ein wenig an die sechziger Jahre. Nicht dass sie damals schon in Beatclubs unterwegs gewesen wäre, aber auch ein Dunkelelf schaute zuweilen Fernsehen, zumindest tat sie es. Viele Gäste hatten große Mühe darauf verwandt, sich dem Ambiente anzupassen. Wer nicht vor der kleinen Bühne tanzte, lümmelte an einem der runden Holztische, die überall aufgestellt waren, trank bunte Cocktails oder Bier aus der Flasche. Trotz der gedämpften Beleuchtung konnte Vivianne bis in die hinterste Ecke sehen. Die Nachtsicht eines Vampirs mochte für stimmungsvolle Beleuchtung eine Katastrophe sein, hier war sie wieder einmal sehr nützlich. An der Bar herrschte großes Gedränge, und es sah so aus, als befänden sich ausschließlich Sterbliche unter den fröhlich feiernden Gästen. Vivianne hatte aus der brenzligen Situation in Salais Wohnung gelernt und gab sich große Mühe, ihre wahre Natur auch vor möglicherweise gut getarnten magischen Geschöpfen zu verbergen. Solange wie ihre Konzentration nicht ermüdete, hätte nun nicht einmal ein Vengador erraten, was oder wer sie war. Ein dominanter Clan wie der ihre war meist mehr als lästig für die jüngeren Familienmitglieder. Viviannes Training sowie die archaischen Gene stellten sich jedoch in solchen Situationen als überaus nützlich heraus und der magische Reif aus fein geflochtenem Edelmetall an ihrem Arm tat sein Übriges. Ihre erste unbegleitete Reise durch die Zwischenwelt hatte darüber hinaus Viviannes Selbstbewusstsein gestärkt. Jetzt fühlte sie sich trotz ihrer jungen Jahre gewappnet für die Aufgaben, die vor ihr lagen, und spürte fast so etwas wie Dankbarkeit für jede Minute, die Kieran sie stets auf eine neue Probe gestellt hatte. Besser, ich erzähle ihm nichts davon. Sonst wird er am Ende noch selbstgefälliger, als er ohnehin schon ist. Doch es war liebevoller Spott, der diese Gedanken hervorrief.
Ein Problem blieb
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