Der Blutkristall
Overnight-Kurier. Wohin?» Sie hielt mit einer Hand den Hörer zu. «Wie heißt das hier?» Gleich darauf gab sie ihrer Mitarbeiterin die Adresse des Ladens, die sie von einem Werbezettel ablas. «Ach, und ich habe mein Handy verloren. Ich besorge mir ein neues und melde mich in den nächsten Tagen wieder. Merci et bonne soiré! Comment? Ja, das wünsche ich dir auch. Au revoir.»
Sie bemühte sich um einen zerknirschten Gesichtsausdruck. «Das hat lange gedauert. Und wegen der Klamotten, ich hätte dich vorher fragen sollen. Aber ich dachte, vielleicht könntest du die Sachen ebenfalls verkaufen, und ich komme irgendwann noch einmal vorbei und suche mir etwas Nettes bei dir aus. Ihr Blick fiel auf ein dunkles, schmal geschnittenes Kleid. «Ich bin nicht ganz sicher, aber es dürften so ungefähr fünfzig Teile sein.»
«Wirklich? Das ist ja fantastisch.» Die junge Frau stand auf, um ein Kleid
rauszukramen. «Probier es doch an, du hast sowieso noch etwas gut bei mir, und wenn wir erst alles verkauft haben, dann sind wir steinreich.»
«Bestimmt sind wir das.» Vivianne sah verlegen zur Seite, bis sie das Kleid sah. «Soll ich?» Ihre Augen strahlten und fast war die unangenehme Szene in Morgans Wohnung vergessen. Nichtsdestotrotz behielt sie das Eisentor am Ende der Straße genau im Blick. Bisher hatte sich nichts bewegt. Natürlich nicht. Dort oben feiern sie längst in einem sündhaft breiten Bett ihre Versöhnung. Der Gedanke daran, wie sich Morgan über die kapriziöse Schönheit beugen würde, um sie so meisterhaft zu küssen, wie er es mit ihr getan hatte, schmerzte überraschend stark und plötzlich war das Kleid nicht mehr wichtig. «Ich müsste noch ein Gespräch mit meiner Familie führen ...» Nicht der geringste mentale Nachdruck war erforderlich, die junge Frau zog sich sogar in den hinteren Teil ihres Geschäfts zurück, um ihr etwas Privatsphäre zu geben. Sie war wirklich ein Engel, ganz anders als die meist überheblichen Verkäuferinnen der Boutiquen, in denen Vivianne sonst einkaufte. Sie sah auf das altmodische Telefon. Jetzt kam der unangenehme Teil und damit die Frage, welchen ihrer Brüder sollte sie anrufen? Sie entschied sich für den älteren der beiden. Asher hatte ihr stets mehr Vertrauen entgegen gebracht als der spartanische Kieran. «Hallo, hier ist Vivianne!» Sie hatte Glück, es war Ashers Seelengefährtin. «Es geht mir gut. Ich bin geschäftlich unterwegs.» Sie wiederholte die Geschichte von dem verlorenen Handy, lauschte eine Weile und lachte. «Du kennst die beiden doch. Wenn sie mich nicht jederzeit erreichen können, dann schicken sie ein Suchkommando los.» Oder noch schlimmer, ihre Brüder würden selbst nach dem Rechten sehen. «Ich werde mir so schnell wie möglich ein neues Telefon besorgen, versprochen.» Sie tauschten noch ein paar gute Wünsche aus und Vivianne legte erleichtert auf.
Schließlich stand sie auf der Straße. Was nun? Das Kleid sowie ein Paar ausgetretene Pumps befanden sich in einem schicken Lederbeutel, den sie sich über die Schulter geworfen hatte. Diese Handtaschenmode kam ihr sehr entgegen. So sah sie wenigstens einigermaßen normal aus und nicht wie eine Bettlerin, die ihren gesamten Besitz in einer billigen Plastiktüte herumtrug. Vivianne war auf dem Weg in ein neues Leben, in dem Männer, so nahm sie es sich vor, keine entscheidende Rolle mehr spielen sollten. Nun gut, bei erotischen Beziehungen würde sie womöglich selbst jemandem wie Morgan einen gewissen Raum zubilligen. Aber ausschließlich darin, nahm sie sich vor. Und dies auch nur, wenn er sich von dieser bösartigen Edna lossagte. Keine Chance , unkte ihr Unterbewusstsein. Vielleicht müsste sie da also eine Ausnahme machen. Möglicherweise ging es vorerst ohnehin nicht ganz ohne Männer, denn sie wollte ja den Dieb finden. Aber die Richtung stimmte und sie würde sich von ihrem Weg nicht abbringen lassen, wäre die Ablenkung auch noch so appetitlich. Mit leichtem Bedauern blieb sie stehen und sah einem überaus anziehenden Sterblichen nach. Es ist ohnehin nur das Blut, das mich an ihm reizt! Wer tatsächlich gemeint war, der Sterbliche oder Morgan, das wollte Vivianne gewiss weder mit ihrer inneren Stimme noch mit sonst jemandem diskutieren. Also ging sie weiter.
Ihr erstes Ziel war jenes leer stehende Haus, in dem Morgan auf Cyrons Hinweis hin schon einmal nach dem flüchtigen Dieb gesucht hatte. Leider war dieser nicht hierher zurückgekehrt. Die Spur war längst erkaltet.
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