Der Blutkristall
unternehmen können, als ein fremder Vampir sich ihrer bemächtigte, um sie zu seiner Braut für eine Nacht zu machen. Edna hatte seine Warnungen in den Wind geschlagen, sich nicht mit seinesgleichen einzulassen. Wer der Mann gewesen war, an den sie ihr Herz verloren hatte, hatte sie ihm nie verraten. Sie war jung gewesen und frisch verliebt, gewiss auch ein wenig ehrgeizig, nachdem sie es so weit gebracht hatte. Das einfache Hausmädchen, umworben von einem geheimnisvollen Edelmann, der ihr alles versprach und nichts davon halten wollte. Solche Schicksale gab es damals zu Hunderten. Zwischen Morgan und ihr gab es immer häufiger Streit. Sie kannte längst sein Geheimnis und wollte wie er sein.
«Du hast alles, was ich mir wünsche!», warf sie ihm vor und verlangte, dass er sie zu einer Tochter der Nacht machte. Selbst wenn Morgan gewusst hätte, wie die Wandlung zu bewerkstelligen gewesen wäre, hätte er es nicht getan. Und das sagte er ihr auch. Sie sollte ein anderes Leben führen, als es das Schicksal für ihn bestimmt hatte. Vor wenigen Wochen hatte er ein kleines Cottage gekauft, mit einem Garten und Obstbäumen. Ideal für eine alleinstehende Frau, um mit der entsprechenden Apanage ein friedliches Leben zu führen. Sie fand diese Aussicht langweilig, er aber versuchte immer wieder, ihr zu erklären, wie viel besser ein solches Leben sein würde als seine eigene, unwürdige Existenz. Aber als es wirklich darauf ankam, halfen ihm weder die Schnelligkeit noch das Geschick eines talentierten Diebs und Mörders, zu dem er inzwischen geworden war. Er hatte versagt. Für mehr als zweieinhalb Jahrhunderte glaubte er sie verloren.
Irgendwann, nicht zuletzt dank seiner Freundschaft zu Sebastian hatte er gelernt, mit ihrem Tod und seiner Schuld zu leben.
Und als er nach all der Zeit ihres unvorstellbaren Martyriums von seinem fürchterlichen Irrtum erfuhr und sie aus der Gefangenschaft befreite, war alles zu spät gewesen. Allein, nur bewacht von einem grausamen Söldner, ohne Liebe oder wenigstens Mitleid, ausgehungert und bitter enttäuscht, war sie längst dem Wahnsinn verfallen. Er hatte sie verraten, sich amüsiert, während sie in feuchten Verliesen litt. Morgan würde dafür ewig in einer Hölle schmoren, die schlimmer war, als die perfidesten Dämonen sie sich erdenken konnten: in seiner ganz persönlichen Hölle, die gefüllt war mit Schuld und Scham. Er hatte gebetet, geschrien und geflucht, nach jedem Strohhalm gegriffen, jeden noch so absurden Zauber angewandt mit dem einen Ziel: ihre Seele zu retten. Vergeblich. Jetzt gab es nur noch eine einzige Hoffnung. Und Morgan hatte gelobt, auch wenn dies sein Ende bedeutete, er würde alle Todsünden begehen, alle Gebote und Regeln brechen, ja selbst Verrat üben an einem Freund, um ihr dieses sagenhafte Heilmittel zu beschaffen. Das Schicksal hatte sich nicht milde gezeigt, sondern ihm eine weitere Last auferlegt, als wolle es die Ernsthaftigkeit seiner Motive ergründen. Ich habe alles gegeben , flehte er lautlos. Doch er kannte die Antwort. Die Götter planten, ihm das Kostbarste zu nehmen. Lange hatte er geglaubt, für ihn gäbe es keine Liebe. Jetzt, da die Hoffnung seine größte Versuchung geworden war, ahnte Morgan, dass eben diese Liebe der Preis für Ednas Freiheit sein würde.
«Wo bist du, mein Geliebter?» Edna.
Zum ersten Mal verspürte er den Wunsch, sie zu schlagen. Seine Fantasie ging noch weiter, gaukelte ihm vor, wie er mit einem einzigen Schwertstreich ihrem und damit auch seinem eigenen Martyrium ein Ende setzte. Doch der Wunschtraum zerplatzte wie eine Seifenblase. Morgan riss sich zusammen, er hatte kein Recht auf ein Glück, das ihr verwehrt geblieben war, weil er versagt hatte.
Edna sah sich mit glasigem Blick um und wollte sich seinem Griff erneut entziehen. Leise begann er, ein altes Wiegenlied zu singen, wie er es immer tat, seit er durch einen Zufall herausgefunden hatte, dass diese einfache Hirtenweise ihre arme Seele zu beruhigen vermochte wie nichts anderes. Auch für ihn blieb sie nicht ohne Wirkung, und während er weiter summte, erwachten die Erinnerungen an eine andere Zeit, an ein anderes Leben …
Ihr Anführer Joe, der bald zu groß sein würde, um sich durch die engen Kaminschächte zu zwängen, besaß unternehmerische Weitsicht. Während Morgan und der achtjährige Jimmy tagtäglich die harte Arbeit verrichteten, die sie eigentlich zu dritt ausführen sollten, baldowerte er die Häuser aus. Nachts kehrten sie dann
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