Der Blutkristall
umdrehen können. Aber offenbar kannte der Lichtelf die Geschichte des Kristalls ebenfalls und verließ sich darauf, dass sie dieses Risiko nicht eingehen würde. Morgan dagegen glaubte er durch ein Versprechen binden zu müssen. Das warf die Frage auf, ob der Vampir noch andere Interessen verfolgte, als nur eine fette Belohnung zu kassieren, sobald er ihr den Blutkristall zurückgebracht hatte. Und welche Interessen verfolgte Cyron wirklich, machte er womöglich gemeinsame Sache mit Morgan? Gewiss, sie hatten keinen Hehl daraus gemacht, dass sie gelegentlich zusammenarbeiteten. Das sprach für ihre Aufrichtigkeit.
Vivianne hielt sich verzweifelt den Kopf. Noch vor wenigen Minuten hätte sie beiden nicht zugetraut, sie zu betrügen. Cyron war ihr immer ein guter Berater gewesen, und Morgan wirkte zwar undurchsichtig, aber ihr Bauchgefühl wehrte sich dagegen, ihm böse Absichten zu unterstellen. Andererseits war nicht zu leugnen, dass er ihr nur half, weil er auf eine Belohnung spekulierte, das waren seine eigenen Worte gewesen. Genau genommen hatten sie aber bisher niemals über eine konkrete Summe gesprochen. Und bis vor einer Stunde hatte sie dennoch nicht vermutet, dass er sie hintergehen könnte. Im Gegenteil, sie hatte sich spätestens seit vergangener Nacht eingebildet, er würde etwas für sie empfinden. Ein Irrtum, wie ihre Begegnung mit Edna, seiner gefährlichen Freundin, gezeigt hatte.
Hätte sie ihr Handy dabei gehabt, sie hätte die Nummer ihres Bruders gewählt. Nicht nur, um ihr Herz auszuschütten, sondern auch damit er ihr aus dem Schlamassel half, so wie er es immer tat, wenn seine kleine Schwester in Schwierigkeiten geriet. Aber das Telefon lag auf ihrem schmalen Bett in Morgans Loft. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, da hörte sie das Geräusch.
Behutsam stand sie auf und lauschte. Jemand kam die Treppe herauf, sie hörte genauer hin. Zwei Männer, nein – Vampire, die sich keine große Mühe gaben, ihre Anwesenheit zu verschleiern. Offenbar rechneten sie nicht damit, auf ein weiteres magisches Wesen zu treffen. Vivianne konnte zwar nur vermuten, dass es sich um Carls Abgesandte oder die des Statthalters handelte, aber wenn es so war, dann mussten sie irgendwie von Salais geheimem Unterschlupf erfahren haben. Sie hatte keine große Lust, Carls Schergen erneut zu begegnen, noch einmal würde sie vielleicht nicht so ungeschoren davonkommen. Diese Gedanken rasten in einem Bruchteil von Sekunden durch ihren Kopf. Dankbar für die leisen Sohlen ihrer Stiefel schlich sie unterdessen durch den Raum. Doch die Schritte, wiewohl für das menschliche Ohr kaum hörbar, näherten sich rasch, und sie wusste, dass sie selbst nur so lange die Chance hatte, unbemerkt zu verschwinden, wie die Besucher noch im Treppenhaus waren. Schnell war ihr klar, dass es keinen anderen Weg gab, als durch das Fenster zu fliehen. Sie öffnete einen Flügel lautlos und kletterte hinaus. Mit der Fußspitze schob sie ihn anschließend zu, und glücklicherweise war das Holz so verzogen, dass dieses Fenster auch ohne Riegel geschlossen bleiben würde. Dabei balancierte sie auf einem schmalen Sims, zum ersten Mal dankbar für die scharfen Klauen, die es ihr jetzt ermöglichten, sich an dem porösen Mauerwerk festzuhalten. Von drinnen hörte sie, wie sich die Wohnungstür öffnete. Jetzt durfte sie keine Zeit mehr verlieren, denn die Vampire würden sofort bemerken, dass ihresgleichen kurz zuvor in der schäbigen Dachkammer gewesen war, weil Vivianne es versäumt hatte, ihre Anwesenheit sorgsam hinter einem Schild zu verbergen. Wegen der mahnenden Worte ihrer Brüder hätte sie es eigentlich besser wissen müssen. Sie schwang sich, die große Tasche quer über dem Rücken, auf das Dach und lief über die glitschigen Ziegel. Dabei versuchte sie, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Vergebens, wie es schien, unten öffnete sich bereits ein Fenster, und kurz darauf spürte sie mehr, als dass sie es hörte, wie ihr einer der Vampire über das Dach folgte. Schnell kam er näher. Wenn sie nicht eingeholt werden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gefährlichste zu wagen. Sie schloss die Lider und stellte sich ein Portal zur Zwischenwelt vor. Dieser winzige Augenblick wäre ihr beinahe zum Verhängnis geworden, denn als sie die Augen wieder öffnete, schwebte ihr Fuß über dem Abgrund. Doch anstatt in die Tiefe zu stürzen, was auch für einen Vampir nicht ohne Verletzungen ausgegangen wäre, trat sie ohne
Weitere Kostenlose Bücher