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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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sagte er. »Sie tun Euch nichts. Sie haben weitaus mehr Angst vor Euch als Ihr vor ihnen.«
    Fassungslos starrte Greetje auf die beiden jungen Frauen, die – wie ihr schien – in einem einzigen Körper mit vier Armen und vier Beinen lebten. Erst allmählich begriff sie, dass zwei Körper am Rücken miteinander verwachsen waren. Mit einem Klagelaut sanken die beiden |398| Mädchen auf den Boden. Beide griffen sich an den Kopf. Sie machten auf Greetje einen unendlich traurigen Eindruck.
    »Meine Frau ist bei der Geburt gestorben. Wen wundert das. Keine Frau ist dafür geschaffen, zwei miteinander verwachsene Kinder zu gebären. Nachdem sie unter entsetzlichen Qualen gestorben war, habe ich etwas getan, was die Kirche streng verbietet. Ich habe ihren Leib geöffnet. Ich habe die beiden Kinder herausgehoben, so dass wenigstens sie leben konnten. Aber die Natur hat mir einen schrecklichen Streich gespielt. Die Natur! Ich bin sicher, dass so etwas in sehr seltenen Fällen geschieht. Überall auf der Welt. Frauen sterben, weil es unmöglich ist, dass sie ihre Kinder auf natürliche Weise zur Welt bringen.«
    »Vater, ist das Greetje?«, fragte eine der jungen Frauen mit leiser, dünner Stimme.
    »Ja, das ist Greetje«, erwiderte er. »Sie wird unser Geheimnis bewahren.«
    »Ja, das werde ich«, versprach Greetje. »Oh Gott, wie ist so etwas möglich?«
    »Ich weiß es nicht«, gestand Jordan Birger. »Mit diesen meinen Kindern wird die Grenze unseres medizinischen Wissens weit überschritten. Vielleicht wird man irgendwann in der Zukunft eine Erklärung dafür haben. Wir haben sie nicht. Wir verstehen nicht, was geschehen ist, aber deshalb müssen wir keine Angst haben. Fürchten müssen wir uns vor der Welt da draußen, vor den Menschen, die alles für Teufelswerk halten, was sie nicht verstehen.«
    »Ich möchte jetzt gehen«, sagte Greetje. »Bitte, ich muss nachdenken.«
    Er half ihr aufzustehen und führte sie die Treppe hinab in die Küche. Sie setzte sich an den Tisch, und er ließ sie allein, um zu seinen Töchtern zurückzukehren.
    |399| Greetje brauchte lange, um damit fertig zu werden, was sie erlebt hatte. Als Tochter eines Arztes hatte sie viel gesehen, hinter dem für Unwissende der Teufel steckte. Ihr Vater war in mancher Hinsicht ein Freidenker gewesen, der sich zu Teilen vom Einfluss der Kirche gelöst hatte.
    »Je weniger die Menschen wissen, je weniger Zusammenhänge sie kennen, umso leichter sind sie zu lenken«, hatte ihr Vater einmal gesagt. »Umso eher fallen sie auf falsches Gerede herein.«
    Dennoch war es schwer für Greetje, die zusammengewachsenen Zwillinge als einen Unglücksfall der Natur anzusehen und nicht als göttliche Strafe für eine Sünde, die Jordan Birger oder seine Frau begangen hatte, als teuflischen Schachzug oder als böswillige Hexerei eines Dämons, der unerkannt in ihrer Mitte lebte.
    Sie fürchtete sich vor einer erneuten Begegnung mit den beiden jungen Frauen, stieg aber am nächsten Tag die Treppe hoch, klopfte an der Tür und trat ein, als sie darum gebeten wurde. Sie fand zwei schwache und verzweifelte Geschöpfe vor, die sich ängstigten, dass Greetje das Geheimnis lüften könnte.
    »Wenn die Leute draußen von uns erfahren«, befürchtete Marie, »stellen sie uns auf den Scheiterhaufen. Dabei haben wir nichts getan. Wir können nichts dafür, dass wir verwachsen sind.«
    Ebenso wie ihre Schwester hatte sie ein ebenmäßiges, schönes Antlitz mit dunklen Augen. Da sie nie draußen in der Sonne gewesen waren, war ihre Haut bleich, fast durchsichtig. Sie machten beide einen empfindsamen Eindruck. Geschickt bewegten sie sich. Keine konnte etwas ohne die andere tun.
    Greetje saß an diesem Tag viele Stunden bei den beiden jungen Frauen und unterhielt sich mit ihnen, und je länger |400| sie mit ihnen war, desto mehr verlor sich ihre Scheu. Angst hatte sie schon bald nicht mehr.
    Marie und Julia waren erstaunlich klug. Sie konnten sogar lesen und schreiben. Ihr Vater hatte es ihnen beigebracht. Sie erzählten Greetje, dass sie neugierig seien und gar zu gern erfahren hätten, wie es draußen aussah. Sie hatten vorsichtig zum Fenster hinausgespäht, bei fast geschlossenen Läden, stets darauf bedacht, dass sie von niemandem gesehen wurden. Selbst in der Dunkelheit der Nacht wagten sie sich nicht hinaus.
    Von nun an stieg Greetje täglich zu den Zwillingen hinauf, um mit ihnen zu reden und um sie mit allem zu versorgen, was sie benötigten. Dabei achtete sie sehr genau

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