Der Blutrichter
Eindringlich hatten sie davor gewarnt, die Gebote der Kirche zu übertreten, weil dann Gefahr bestand, dass die Hölle ihren Schlund öffnete, um die Sünder in sich aufzusaugen.
Sie flüchtete zum Hafen und hoffte, ein Schiff zu finden, das ihr aus Hamburg bekannt war. Sie wollte den Kapitän bitten, sie mitzunehmen, egal, wohin die Reise gehen sollte.
Doch sie traf keinen Kapitän an, dem sie schon einmal begegnet war, und wagte es nicht, einen der fremden Seemänner anzusprechen. So etwas gehörte sich nicht und |393| führte allzu leicht zu peinlichen Missverständnissen. Sie war keine von jenen Frauen, die bunte Bänder an den Armen trugen.
Greetje ließ den Hafen hinter sich zurück und ging an der Aller entlang, bis sie auf ein Gebüsch am Ufer stieß, in dem sie sich verkriechen konnte. Sie hatte nur einen Wunsch. Sie wollte weg aus Verden. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie jedoch niemanden mehr, bei dem sie Schutz suchen konnte. Sie war sicher, dass sie bei Hinrik geborgen wäre, trotz aller Gefahren, die ihm drohten. Er war stark, und er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um sie in Sicherheit zu bringen. Die Möglichkeit, zu den Freibeutern zurückzukehren, blieb ihr verschlossen. Der Herbst zog ins Land, und damit endete die Zeit, in der Störtebeker und seine Likedeeler aufs Meer hinausfuhren.
Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, es gab keinen Ausweg. Den Winter über musste sie in Verden bleiben. Ob es ihr gefiel oder nicht. Was aber sollte sie tun? In das Haus des Arztes wollte sie unter gar keinen Umständen zurückkehren. Sie hatte Angst vor dem grauenhaften Monster, das sich im Obergeschoss befand. Allein bei dem Gedanken daran begann sie zu frösteln. Sie stellte sich vor, wie dieses Ungeheuer sich in der Dunkelheit die Treppe herunterschlich, um sie mit gierigen Augen zu beobachten und schließlich zu überfallen.
Als sie die Hände vor das Gesicht schlug, sah sie das monströse Wesen vor sich, wie es auf sie zukroch und seine Klauen nach ihr ausstreckte. Mit einem Schrei nahm sie die Hände von den Augen.
»Greetje?«, fragte eine ihr bekannte Stimme.
Sie kauerte sich zusammen, um sich so klein wie möglich zu machen. Vergeblich. Eine Männerhand bog die Zweige auseinander, und dann blickte sie in das bleiche, |394| von tiefen Furchen gezeichnete Gesicht Jordan Birgers. Im gleichen Moment glaubte sie zu wissen, warum er so blass war und so ausgezehrt aussah. Das Monster saugte ihm seine Lebenskraft aus. Mit dämonischer Kraft zwang es ihn immer wieder, die Treppe hinaufzusteigen und sich ihm auszuliefern. Ängstlich wich sie vor ihm zurück.
»Ich bin enttäuscht von Euch, Greetje«, sagte er und setzte sich neben sie ins Gras. Erschrocken rückte sie ein wenig ab. Am liebsten wäre sie geflüchtet, doch sie konnte nicht. Brombeerranken versperrten ihr den Weg, und in den Fluss springen wollte sie nicht. »Bene ist ein törichtes, albernes Ding. Viel zu dumm, um zu begreifen. Aber Ihr? Mir ist noch nie eine Frau begegnet, die so viel von der Heilkunst versteht und dabei einen so klaren Verstand hat wie Ihr.«
Ihre Lippen bebten. Verzweifelt suchte sie nach einer Antwort.
»Als meine Helferin solltet Ihr wissen, dass es Dinge gibt auf dieser Welt, die sich unserem Verstand entziehen. Wir Menschen sind klein und unbedeutend in Gottes Reich. Niemals werden wir alles verstehen.«
»Aber ... aber . . .«, stammelte sie.
»Es ist schlimm, dass Menschen gefoltert und erschlagen werden, weil sie sich dem christlichen Glauben nicht anschließen wollen.«
»Ihr sprecht von den Femegerichten«, brachte Greetje mühsam hervor.
»Richtig. An ihnen nehmen sogar Vertreter der Kirche teil. Sie fällen Todesurteile und bringen Menschen um, die einen anderen Glauben haben, obwohl es in den Zehn Geboten heißt: Du sollst nicht töten! Aber die Menschen benutzen ihren Verstand nicht, sondern lassen sich von ihren Gefühlen, von ihren Ängsten leiten. Ich bin sicher, es existiert keine Hexerei. Nichts von dem, was uns widerfährt |395| , ist Teufelswerk. Wenn wir fest sind in unserem Glauben an Gott, haben wir nichts zu fürchten.«
»Aber was ... was . . .?«
»Was sich oben in meinem Hause verbirgt?« Seine Stimme versagte, so dass er für eine lange Zeit nicht die Kraft fand, weiterzusprechen. Schließlich fügte er leise und unendlich traurig hinzu: »Es hat nichts mit Hexerei zu tun, und es ist kein Teufelswerk. Ihr braucht keine Angst zu haben. Wirklich nicht. Ich schwöre
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