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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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es bei allem, was mir heilig ist.«
    Er legte ihr seine Hand auf den Arm.
    »Ihr seid mir wichtig, Greetje. Ich mag Euch, und ich schätze Euch. Ihr bedeutet mir sehr viel. Deshalb habe ich Euch gesucht, nachdem Ihr weggelaufen seid aus meinem Haus, und ich bin froh, dass ich Euch gefunden habe. Ihr sollt wissen, dass ich Euch niemals und unter gar keinen Umständen etwas antun könnte. Lieber würde ich sterben, als dass ich zuließe, dass Euch ein Leid geschieht.«
    So hatte er noch nie mit ihr geredet. Ihre innere Spannung löste sich, und obwohl sie es nicht wollte, begann sie zu weinen. »Ich habe solche Angst gehabt«, schluchzte sie. »So schreckliche Angst.«
    »Das braucht Ihr nicht, Greetje. Ich bitte Euch. Vertraut mir.« Jetzt lächelte er sogar ein wenig. »Man braucht nicht vor allem Angst zu haben, was man nicht kennt. Gerade Menschen wie wir, die sich mit der Heilkunst befassen, dürfen sich nicht vor dem Unbekannten fürchten, mit dem die Natur uns konfrontiert. Ja – die Natur. Nicht der Teufel. Nicht die Dämonen. Wir leben nicht mit ihnen, sondern mit der Natur – und die hält viele Wunder für uns bereit. Wir müssen neugierig sein, damit sie sich uns erschließen. Forscherdrang gehört zu unserem Beruf. Wenn wir uns mit dem zufriedengeben, was wir als Ärzte wissen, können wir gleich aufhören, uns der Heilkunst zu |396| widmen. Die Zeiten ändern sich, und es kommen immer neue Erkenntnisse hinzu. Manches ist erfreulich für uns, weil es den Patienten hilft, aber manches ist erschreckend, beängstigend, weil es uns die Grenzen unseres Könnens und Wissens aufzeigt – niemals aber ist es Teufelswerk, sondern immer Teil der Natur.«
    »Und jetzt?«, fragte sie. »Was jetzt?«
    »Ich möchte, dass Ihr mit mir kommt und Euch anseht, was sich im oberen Stockwerk verbirgt.«
    »Das kann ich nicht!«, weigerte sie sich, kaum ihrer Stimme mächtig.
    »Bitte, Greetje!« Beschwörend sah er sie an und wirkte dabei so einsam und verloren, dass sie Mitleid mit ihm empfand. Sie spürte, dass er Hilfe benötigte, und sie wusste tief in ihrem Inneren, dass er zusammenbrechen würde, falls sie ihm diese nicht gewährte.
    Jordan Birger stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. Zögernd griff sie zu und erhob sich. Er versuchte, sie an sich zu ziehen, doch sie wich ihm aus.
    »Bitte, kommt mit mir«, flehte er. »Glaubt mir, was ich in meinem Haus verberge, belastet mich sehr. Dabei liebe ich es aus ganzem Herzen, denn das Licht in der Finsternis ist die Liebe.«
    »Also gut«, stimmte Greetje zu. »Ich finde keine Ruhe, bevor ich nicht weiß, was Ihr in Eurem Haus verbergt.«
    Schweigend schritten sie nebeneinander her nach Hause. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto größer wurde Greetjes Angst. Vergeblich suchte sie nach einem Ausweg. Sie fürchtete sich vor dem Wesen, das im Haus des Arztes lebte, fühlte sich zugleich aber geradezu magisch von ihm angezogen. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie durch unsichtbare Fäden mit diesem Wesen verbunden. Wie benommen ging sie neben dem Arzt her, sah und hörte kaum, was um sie herum geschah. Ein seltsames |397| Gefühl der Leichtigkeit stieg in ihr auf, und ihre Beine trugen sie voran. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie auf seltsame Weise der Wirklichkeit entrückt.
    Der Arzt stieß die Tür auf, trat zur Seite und ließ sie vorangehen. Greetje fühlte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Unwillkürlich wischte sie ihre feucht gewordenen Hände an ihrem Rock ab. Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, als hätte sich eine unsichtbare Wand vor ihr aufgebaut, die sie nicht überwinden konnte.
    »Bitte«, drängte Jordan Birger mit leiser Stimme. »Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.«
    Mechanisch und unfähig, klar zu denken, setzte sie ihre Füße auf die Stufen und stieg langsam hinauf, gefolgt von dem Arzt, der ihr sanft eine Hand in den Rücken legte. Die Tür am Ende der Treppe stand halb offen. Geheimnisvolle Schatten schienen sich in dem Zimmer zu bewegen.
    »Nein, bitte, ich kann nicht!«, stammelte sie.
    »Doch, Ihr könnt«, widersprach er. »Nur Mut. Ihr habt es gleich geschafft.«
    Die letzte Stufe war erreicht. Birger griff an ihr vorbei und schob die Tür auf, so dass sie das monströse Wesen sehen konnte, das mitten im Raum stand. Vier weit geöffnete Augen blickten sie an.
    Mit einem erstickten Laut sackte sie zusammen. Jordan Birger griff mit beiden Händen nach ihr und stützte sie.
    »Das sind meine Töchter Marie und Julia«,

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