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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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behauptete Greetje. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fuhr fort: »Du weißt, dass Frau Birger vor langer Zeit gestorben ist. Seitdem trauert der |403| Herr um sie. Er kann und kann sie nicht vergessen. Er hat dort oben eine Art Altar errichtet, vor dem er betet und an dem er ihrer gedenkt. Ich finde, wir sollten seine innigsten Gefühle nicht verletzen, indem wir diese Räume, die ihm heilig sind, gegen seinen Willen betreten.«
    Bene hatte plötzlich Tränen in den Augen. Sie sah hinauf zur Tür und faltete die Hände vor der Brust. Greetje hatte die beabsichtigte Wirkung erzielt. Die Notlüge war glaubhaft für das einfache Mädchen, und sie rührte sie so sehr, dass sie keinen Ton mehr sagen konnte. Sie machte einen respektvollen Knicks und huschte dann nahezu lautlos davon. Greetje hörte, wie die Haustür ging. Sie atmete auf. Eine gefährliche Krise war überstanden.
    Reuig bekreuzigte sie sich.
    »Verzeih mir, Herr«, bat sie mit leiser Stimme. »Ich wusste mir nicht anders zu helfen.«
    Sie erzählte Jordan Birger davon. Er lobte sie für ihr Verhalten.
    »Hoffentlich ist Benes Neugier jetzt gestillt«, sagte er. »Das Mädchen ist gefährlich. Wir müssen noch vorsichtiger sein als bisher.«
    Er legte seine Hand auf ihren Arm und sah sie lange an. Und weil er merkte, dass es ihr nicht unangenehm war, zeigte er ihr von nun an immer wieder, was er für sie empfand. Sie mochte ihn, und sie war gern mit ihm zusammen. Sie vermittelte ihm ihr Wissen über Heilkräuter, während er ihr Einblicke in seine diagnostischen und chirurgischen Fähigkeiten gab. Kamen Frauen mit ihren besonderen Beschwerden in die Praxis, hielt er sich im Hintergrund, weil sie es vorzogen, sich von einer Frau behandeln zu lassen. Auch Kinder waren bei Greetje oft besser aufgehoben als bei ihm. Dafür verfügte er auf anderen Gebieten über Kenntnisse, die sie nicht hatte.
    |404| Am wertvollsten war die Hilfe, die sie einander leisteten, wenn ein Kind tragischerweise sein junges Leben verlor, weil die Medizin versagte, oder wenn Menschen zu Grabe getragen wurden, bei denen sie über Tage und Wochen hinweg Hoffnung auf Heilung gehabt hatten, oder wenn ein Verunglückter zu spät in die Praxis gebracht wurde und unter ihren Händen starb.
    In solchen Fällen suchte vor allem Jordan Birger Greetjes Nähe. Sie wurde sich bewusst, dass er dabei war, Hinrik zu verdrängen, und wehrte sich dagegen. Sie glaubte nach wie vor an den Mann, den sie wie keinen anderen liebte und für den sie Abend für Abend betete.
    Weihnachten verbrachten Jordan Birger und Greetje in aller Stille mit Marie und Julia. Den Zwillingen brannten viele seltsame Fragen auf der Zunge.
    »Wie fühlt sich Gras an, wenn man auf der Wiese liegt und ein leichter, warmer Sommerwind darüber hinwegstreicht?«, »Wie sieht das Meer aus?«, »Was hört man, wenn Wellen auf den Strand rollen?«, »Können große Schiffe wirklich schwimmen?«, »Wie ist es, auf einem Pferd zu reiten?«, »Blühen Blumen auf einer Wiese, ohne dass jemand sie alle wegpflückt?«, »Kann man auf dem Eis laufen?«
    »Was geschieht, wenn einer von uns beiden stirbt?«, »Warum kann man uns nicht einfach auseinanderschneiden?«, »Warum bestraft uns Gott, obwohl wir doch gar nichts Böses getan haben?«, »Warum können wir nie einen Mann lieben?«
    Manchmal scherzten und lachten Julia und Marie miteinander und versuchten, sich anzusehen. Sie waren dann so albern, dass sie sich kichernd und atemlos vor Lachen in eine Ecke des Raumes sinken ließen und durch nichts zu beruhigen waren. Dann wiederum stritten sie wegen irgendwelcher Nichtigkeiten.
    |405| Ende Januar kam Greetje in die Küche, fand dort einen kleinen Kuchen, brennende Kerzen und eine Schachtel mit zwei Ringen vor. Erschrocken begriff sie, dass Jordan Birger sich ein Herz gefasst hatte und um ihre Hand anhalten wollte. Wie gelähmt blieb sie in der Tür stehen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie liebte Hinrik, und sie glaubte nach wie vor fest daran, dass sie sich früher oder später wiedersehen würden. Auf der anderen Seite mochte sie Jordan Birger, und sie wollte ihm nicht wehtun. Sie fürchtete um sein Herz, das eine Ablehnung nicht verkraften würde.
    Während sie fieberhaft nach einem Ausweg suchte, hörte sie die Haustür. Schritte näherten sich. Plötzlich war ein erstickter Laut zu hören, dann ein Poltern. Greetje eilte zur Haustür, und da sah sie den Arzt auf dem Boden liegen. Mit den Händen drückte er auf sein Herz.
    In

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