Der Blutrichter
vernichten und um Euren gesamten Besitz zu bringen.«
»Mein Vater hat mir keine Aufzeichnungen gegeben und mir niemals etwas davon gesagt«, beteuerte Hinrik. Er hatte keinerlei Verständnis für das Verhalten des Femegerichts. Es hatte nicht nur den Auftrag, für den christlichen Glauben zu kämpfen, sondern auch, Recht zu sprechen. Aber das Gericht hatte das Recht gebeugt, um persönliche Vorteile für die Mitglieder herauszuschlagen. Auf einen bloßen Verdacht hin hatte das heimliche Gericht einen wahren Feldzug gegen ihn eröffnet. Und er war noch nicht zu Ende. »Falls es sie wirklich gibt, hat er sie vermutlich . . .« Hinrik verstummte.
»Was hat wer?«, wollte Störtebeker wissen, der den Eröffnungen des Grafen mit wachsender Verwunderung gefolgt war.
»Er hat sie wahrscheinlich auf dem Hof versteckt. Auf meinem Hof, der mittlerweile abgebrannt ist. Also haben die beiden vom Grafen ausgeschickten Männer gar nicht nach Geld gesucht, sondern nach den Aufzeichnungen«, erklärte Hinrik.
»Das ist richtig«, bestätigte Pflupfennig. Er ächzte, als hätte er sich von einer großen Last befreit. Das Verhör kostete ihn viel Kraft. Es schien, als würde der Tod nach ihm greifen und seinen Körper austrocknen. »Es könnte sein, dass sie verbrannt sind. Es könnte aber auch sein, dass es sie noch gibt und dass Ihr sie habt.«
Hinrik vom Diek schüttelte verständnislos den Kopf. Ihn hatte höchstens am Rande interessiert, welche Geheimnisse die Femegerichte umgab. Bei ihm war kein Abgesandter des Kaisers oder des Erzbischofs von Köln gewesen, um ihm den Auftrag zu geben, Schöppe eines Femegerichts zu werden. Er wusste jedoch um deren Macht und kannte den oft verhängnisvollen Einfluss. Jenes |440| Femegericht, dem sein Vater angehört hatte, existierte nach wie vor. Hans Barg und Graf Pflupfennig waren ausgeschieden, aber neben Bruder Albrecht, den Hinrik für nicht so gefährlich hielt, gehörte ihm Wilham von Cronen noch immer an. Und diese Tatsache war möglicherweise bedenklicher als dessen Position als Richter in Hamburg. Es lag auf der Hand, dass er die entstandenen Lücken im Femegericht mittlerweile geschlossen hatte. Dabei war anzunehmen, dass er ihm hörige Männer als Schöppen, Frohnboten und Gerichtsschreiber berufen hatte. Hinrik fragte sich, wer diese Männer waren und wie groß die Gefahr war, die von ihnen ausging.
Wieder schloss der Graf die Augen. Hinrik fiel auf, dass sich die Augäpfel unter den Lidern bewegten. Zunächst vermutete er, dass die Angst für Unruhe sorgte, doch dann begriff er. Der Graf war in höchstem Maße konzentriert. Er war am ganzen Körper gelähmt, aber sein Verstand funktionierte.
Vorsorglich zog Hinrik Störtebeker und Gödeke Michels zur Seite und entfernte sich mit ihnen einige Schritte vom Lager des Grafen.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, raunte er ihnen zu. »Der Graf stirbt beinahe vor Angst. Das ist sicher. Aber aufgegeben hat er nicht. Er schließt die Augen nicht, weil er so schwach ist, sondern weil er sich ganz auf sein Gehör verlässt. Sobald er die Augen schließt, lauscht er. Er wartet auf jemanden, der ihn aus seiner Lage befreit. Obwohl er uns fürchtet, würde er nicht so offen reden, wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass bald jemand kommt, der uns die Gurgel durchschneidet.«
Störtebeker sah ihn überrascht an, dachte kurz nach und nickte dann zustimmend. Flüsternd wechselte er ein paar Worte mit Gödeke Michels. Dann gab er ihm einen auffordernden Wink, und sie kehrten an das Lager des |441| Grafen zurück, während der Bärtige den Raum verließ, um sich draußen auf dem Hof umzusehen.
»Es tut mir leid, Pflupfennig, dass ich Euch nicht in Ruhe lassen kann«, sagte Hinrik. Als er eine Hand auf die Pelze legte, spürte er den reglosen Arm des Grafen.
»Das alles ergibt wenig Sinn«, fuhr er fort. »Mein Vater wurde getötet, als ich ein Kind war. Seitdem sind viele Jahre vergangen, und in all dieser Zeit ist nichts geschehen. Wieso hat sich das Femegericht dann plötzlich mit mir befasst? Warum nicht schon viel früher? Was ist geschehen?«
»Das geht Euch nichts an.«
Hinrik beugte sich über ihn, bis sein Gesicht kaum eine Handbreit von dem des Grafen entfernt war.
»Und ob es mich etwas angeht. Ich will es wissen.«
Voller Verachtung spuckte ihm der Graf ins Gesicht. Erschrocken und angeekelt fuhr Hinrik zurück, nahm ein Tuch und wischte den Speichel ab. Jetzt ging Störtebeker zu dem Gelähmten. Er legte seine Hand
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