Der Blutrichter
Geschichte«, begann der Graf, nachdem er noch einmal gezögert hatte. Zornig ob seiner Hilflosigkeit richtete er seinen Blick auf den Ritter. »Sie hat hauptsächlich mit Eurem Vater zu tun, aber auch mit Euch und Eurer Entscheidung, den Ritterstatus zu verraten und Bauer zu werden, mit Eurem Ehrgeiz, Pferde zu züchten, um uns das Geschäft zu verderben. Mit Eurer Art, Eure Knechte und Mägde zu behandeln und zu entlöhnen. Es ist unverzeihlich, ihnen mehr Rechte zu geben, als ihnen zustehen. Das bringt sie nur gegen uns auf.«
»Was war mit meinem Vater? Das ist es, was mich interessiert. Was hat er getan?«
»Er gehörte einem Femegericht an.« Der Gelähmte sprach langsam und stockend, so als würde er sich jede einzelne Silbe abringen. Tatsächlich gab er ein Geheimnis preis und brach damit den heiligen Schwur, den er abgelegt hatte. Er war ein »Wissender«, und es war ihm wie |437| allen anderen Mitgliedern des Femegerichts unter Androhung härtester Strafen verboten, etwas von seinem Wissen preiszugeben. Allein die Angst um seine Familie und sein hoffnungsloser Zustand nach dem erlittenen Schlaganfall ließen ihn reden. »Ich als der Freigraf, Euer Vater, Bruder Albrecht, Wilham von Cronen als Schöppen, Hans Barg als Frohnbote. Der Erzbischof von Köln hat uns den Auftrag erteilt, für Recht und Ordnung zu sorgen.«
»Der Erzbischof?«, zweifelte Störtebeker.
»Er hat die Oberaufsicht über die Femegerichte, die auf Verlangen des Papstes Leo und aufgrund eines Befehls Kaiser Karls ins Leben gerufen wurden«, bestätigte der Graf. Er musste eine Pause einlegen, weil ihm die Stimme versagte. Hinrik flößte ihm vorsichtig etwas Wasser ein. »Allzu viele haben dem christlichen Glauben abgeschworen und sich wieder heidnischen Bräuchen zugewendet. Sie opfern den alten Götzen und erziehen ihre Kinder in diesem Irrglauben. Kaiser Karl hat viele seiner Grafen, Barone und Ritter, die er als Vögte und Zwingburgherren im ganzen Land verteilt hatte, zu heimlichen Richtern bestellt und ihnen befohlen, solche Pflichtvergessenen überall, wo sie ihrer habhaft werden können, zu verurteilen und ohne Gnade zu töten. In letzter Zeit wurde die Verantwortlichkeit der Femegerichte freilich auf andere Vergehen ausgedehnt.«
»Und weiter?«, drängte Hinrik, als der Graf erschöpft die Augen schloss und abermals eine Pause einlegte. »Ich will mehr hören.«
»Euer Vater hat gegen das höchste Gesetz der Femegerichte verstoßen«, fuhr der Gelähmte fort, ohne die Augen aufzuschlagen. Sein Mund verzog sich. Es war unverkennbar, wie sehr er Friedrich vom Diek und dessen Sohn Hinrik ob ihres Verhaltens und Denkens verachtete. »Als Mitglied des Femegerichts war er ein Wissender, und als |438| solcher war er zu ewigem Schweigen verpflichtet. Doch er konnte seinen Mund nicht halten. Er hat sein Wissen weitergegeben. Daraufhin hat ihn das Femegericht zum Tode verurteilt. Bevor er starb, hat er seinem Henker verraten, dass er alles aufgeschrieben hat, was ihm über die Femegericht bekannt war. Dafür hätte er den zehnfachen Tod verdient gehabt, aber ein Mensch kann nur einmal sterben.«
»Der Henker? Dann ist der bronzene Ritter der Henker des Femegerichts?«
»So ist es.«
»Aber was habe ich damit zu tun?« Hinrik hatte Mühe, sich zu beherrschen. Das Bild seines Vaters änderte sich immer mehr. Mit den Vorstellungen seiner Kindheit stimmte es schon lange nicht mehr überein. Nun wusste er nicht, wie er das Verhalten seines Vaters beurteilen sollte. Er selbst stand den Femegerichten scharf ablehnend gegenüber. Vermutlich hatte sein Vater sich nach den Erfahrungen, die er damit gemacht hatte, davon distanziert. Vielleicht hatte er deshalb seinen Schwur gebrochen und sein Wissen preisgegeben.
Gödeke Michels hob mahnend eine Hand. Über ihnen ertönten Schritte. Das Holz knarrte. Eine Tür ging, die Schritte kehrten zurück, danach war es wieder ruhig im Haus. Eine der Frauen des Hauses hatte ihre Kammer verlassen, dann war sie offenbar in ihr Bett zurückgekehrt.
»Was geht das alles mich an?«
»Wir haben Hinweise bekommen, dass Euer Vater die Aufzeichnungen an Euch gegeben hat, so dass auch Ihr um das Femegericht wisst. Doch Ihr seid kein Wissender! Obwohl Ihr Ritter seid, hat Euch niemand als Schöppe zu einem Femegericht bestellt. Hätten wir Beweise für das Fehlverhalten Eures Vaters, wäre Euch der Tod sicher. Leider haben wir jedoch keine Beweise. Daher beschloss |439| das Gericht, Euch ohne Anklage zu
Weitere Kostenlose Bücher