Der Blutrichter
Wangen glänzten im Sonnenlicht. Er war ein Mann, der den Sinnesfreuden zugeneigt war und der genau wusste, wo für ihn die Vorteile lagen. Da waren auf der einen Seite die Inselbevölkerung und noch immer annähernd tausend Likedeeler, von denen er abhängig war und die ihm ein gutes und bequemes Leben garantierten. Auf der anderen Seite stand nur sie allein, und sie hatte ihm gar nichts zu bieten.
»Du solltest den Namen Christi nicht im Mund führen, Priester«, erwiderte sie. »Jesus Christus ist Liebe und . . .«
»Um Himmels willen!«, unterbrach er sie. »Eine Kreatur des Bösen darf nie und nimmer den Namen des Herrn aussprechen!«
»So bin ich also schon für schuldig befunden und verurteilt worden«, stellte sie erregt fest. »Und dabei habe |466| ich nichts weiter getan, als jenen zu helfen, die meine Hilfe brauchten. Ich habe Leben gerettet, und ich habe meine Arbeit besser gemacht als jener Scharlatan, der unfähig ist, seine Patienten richtig zu behandeln, der gemerkt hat, dass ich besser bin als er, und der voller Neid und Missgunst eine Unschuldige eine Hexe nennt, damit niemand auf der Insel merkt, was für ein schlechter Arzt er ist!«
»Da hört ihr es«, schrie Hein Schwan. Er reckte beide Fäuste in die Höhe. »Sie hat alle verhext, denen ich geholfen habe. Sie will Inselärztin werden und mich vertreiben. Tötet sie, bevor sie euer aller Sinne mit den Kräften der Hölle verwirrt.«
Eine kleine weißhaarige Frau drängte sich durch die Menge und postierte sich neben Greetje. »Seid Ihr alle von Sinnen?«, fragte sie mit durchdringender Stimme. »Ich habe an der Seite dieser jungen Frau gearbeitet. Immer wieder hat sie mich ermahnt, die Wunden zu säubern und möglichst saubere Tücher als Verbände zu verwenden. Sie hat mir gesagt, dass die Wunden umso besser verheilen, je sauberer die Tücher sind.«
»Das ist Unsinn«, protestierte Hein Schwan.
»Seht euch doch um«, forderte Inga Grotjahn. »Hein hat schmutzige Lappen verwendet. Er hat die Wunden kaum gereinigt. Was die Folgen sind, liegt auf der Hand.«
Greetje wurde schwindelig. Es war eine geradezu groteske Situation. Der Mann der Kirche, der Mann, der im Namen ihres geliebten Jesus Christus sprach, der Mann, dessen Denken und Handeln sich allein um die Liebe zu seinem – und seiner – Nächsten drehen sollte, verdächtigte sie, eine »Kreatur des Bösen« zu sein, und dafür genügten ihm ein paar anklagende Worte eines unfähigen, grobschlächtigen Arztes, der um seine Pfründe fürchtete. Jene Frau aber, die Götzen anbetete und sich von Gott und |467| seinem Sohn Jesus Christus abgewendet hatte, jene Frau, die sie eigentlich der Kirche melden musste, ob ihres Frevels gegen die Gebote des Christentums, stellte sich mutig an ihre Seite und setzte sich für sie ein, obwohl es viel einfacher und vielleicht auch ungefährlicher für sie gewesen wäre, gar nichts zu tun und die Dinge einfach laufen zu lassen.
|468| Nebel
Als die Sonne aufging und ihre ersten Strahlen über das flache Land an der Elbe schickte, stand Hinrik auf. Ihn fröstelte. Die Nacht war kalt und feucht gewesen. Unter diesen Umständen auf dem blanken Boden zu schlafen, war ausgesprochen ungemütlich. Hier und da hatten sich Nebelbänke gebildet und schränkten die Sicht ein. In kleinen Schwaden schoben sie sich auf den Strom hinaus.
Störtebeker war bereits auf den Beinen. Er wollte Feuer machen, doch das Holz war feucht und brannte nicht so recht. Immerhin entstand eine dicke Rauchwolke. Da nur ein schwacher Wind wehte, stieg die Rauchfahne beinahe senkrecht in die Höhe.
»Hör auf!«, rief Gödeke Michels, nachdem er die Versuche seines Freundes eine geraume Weile mit mürrischem Gesicht verfolgt hatte. »Der Rauch genügt. Was brauchen wir Feuer! Sie haben uns gesehen.« Er zeigte zu einer der Inseln hinüber, die mitten im Strom lagen. Aus ihrer Deckung löste sich nun eine Schnigge, die selbst auf die Entfernung als »Möwe« zu erkennen war. Um jeden Zweifel zu beseitigen, hisste die Mannschaft die weiße Flagge mit dem schwarzen Stierkopf.
Es dauerte nicht mehr lange, bis die Schnigge in Ufernähe ankerte und einer der Seemänner mit einem kleinen Boot herüberkam, um sie aufzunehmen.
Mittlerweile hatte der Wind aufgefrischt, zudem setzte die Ebbe ein und verstärkte die in Richtung Nordsee gehende Strömung. Störtebeker ließ den Anker lichten |469| und das Segel setzen. Rasch nahm die »Möwe« Fahrt auf. Gödeke Michels war begeistert.
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