Der Blutrichter
»Unter diesen Umständen erreichen wir Helgoland sehr viel früher als sonst. Der Wind kommt genau von achtern. Besser könnte es nicht sein.«
Begeisterung machte sich breit. Jeder freute sich darauf, bald auf Helgoland zu sein, um dort Freunde zu treffen oder eine der Kneipen aufzusuchen.
Die Stimmung änderte sich erst, als der Ausspäher vom Korb herunterschrie: »Vor uns ist eine ganze Flotte! Es sind wenigstens zehn Koggen. Vielleicht noch mehr.«
Störtebeker eilte an Deck. Er ließ sich genau beschreiben, was zu sehen war. Danach stand fest, dass sie es mit Schiffen der Hanse zu tun hatten. Sie waren vor der Elbmündung vor Anker gegangen und konnten aufgrund von Wind und Tide den Weg stromauf nicht antreten.
»Das wird eng«, erkannte Störtebeker ernst. »Verdammt eng.«
»Wahrscheinlich haben sie uns gesehen«, sagte Gödeke Michels mit sorgenvoller Miene. »Wenn es ganz böse kommt, bilden sie einen Riegel, um uns den Weg zu versperren.«
»Jetzt wird es ernst, Hinrik«, sagte Störtebeker. »Es könnte sein, dass Eurer ganzes Geschick mit dem Schwert gefordert ist. Kommt mit. In der Kabine habe ich ein Schwert für Euch. Es ist ein kostbares Stück. Härter und schärfer als alle anderen, die ich je in Händen hatte.«
Er holte die Waffe aus einer Kiste, nickte zufrieden und übergab sie ihm. Hinrik merkte sofort, dass es sich um ein besonderes Schwert handelte. Es war ein Langschwert aus gehämmertem und poliertem Eisen und lag vorzüglich in der Hand, ohne das Handgelenk zu sehr zu belasten. Nie zuvor hatte er eine derartig scharfe Waffe verwendet.
»Es könnte sein, dass sie uns zum Kampf herausfordern |470| «, warnte Störtebeker. »Wir werden alles versuchen, an den Schiffen vorbeizukommen. Allerdings haben wir es mit einer immer stärker werdenden Strömung und einem äußerst ungünstigen Wind zu tun. Es wird extrem schwierig für uns werden. Immerhin könnte uns der Nebel helfen.«
»Ihr könntet die Flagge einholen«, schlug Hinrik vor. »Das könnte uns ein wenig Luft verschaffen. Wenn sie nicht sofort erkennen, um welches Schiff es sich handelt, reagieren sie vielleicht nicht so schnell.«
Störtebeker lächelte und richtete sich auf. »Niemals«, lehnte er ab. Sein Stolz ließ eine solche Maßnahme nicht zu. »Sie sollen von Anfang an wissen, mit wem sie es zu tun haben.«
Gödeke Michels kam zu ihnen in die Kabine. »Die ›Bunte Kuh‹ ist dabei«, berichtete er. »Das größte und stärkste Schiff, das mir je begegnet ist. Es heißt, dass dieser Koloss seine Gegner mit Vorliebe rammt, um sie so auf den Grund der See zu schicken.«
»Das wird ihr nicht gelingen.« Störtebeker blieb erstaunlich ruhig. »Unser Vorteil ist, dass wir schnell und wendig sind. Die ›Bunte Kuh‹ ist behäbig. Sie kann nur etwas gegen uns ausrichten, wenn andere Schiffe uns einkeilen. So weit werden wir es nicht kommen lassen.«
»Viele Hunde sind des Hasen Tod«, gab Gödeke Michels zu bedenken. Er streckte die Hand aus, und Störtebeker schlug ein. »Aber das kann uns nicht schrecken. Wir sind Gottes Freunde und aller Welt Feinde. Wir werden auch das bestehen.«
Als sie die Kabine verließen, sah Hinrik, dass sich die gesamte Besatzung an Deck versammelt hatte. Jeder dieser Männer war bis an die Zähne bewaffnet – mit allem, was sich zur Abwehr der Feinde und ihrer Tötung einsetzen ließ. Einige hatten mehrere Dolche im Gürtel stecken |471| , andere zusätzlich Kurzschwerter, die hauptsächlich für den Stoßangriff vorgesehen waren, Spieße, Beile, Keulen und Enterhaken.
Die Schiffe der Hanse waren etwa zwei Meilen entfernt, und die »Möwe« glitt schnell auf sie zu. Hinrik zählte fünfzehn Koggen und ein weiteres, wesentlich größeres Schiff. Mit dem hochgezogenen Bug, dem Achterkastell, seinem Mast, dem Segel und dem am Heck angebrachten Ruder wies es die typischen Konstruktionsmerkmale einer Kogge auf. Es war die »Bunte Kuh«, von der er bereits so einiges gehört hatte. Allein durch ihre Größe war sie beeindruckend. Er vermutete, dass mindestens doppelt so viele Männer auf ihr Platz hatten wie auf einer gewöhnlichen Kogge.
Die Schiffe der Hanse bildeten keine geschlossene Kette, sondern zwei Pulks zu den Seiten der Elbmündung. Sie ankerten im relativ flachen Wasser, um nicht von der Strömung abgetrieben zu werden. Die »Bunte Kuh« lag am nördlichen Ufer. Nun setzten mehr und mehr Koggen ihre Segel und lösten sich aus ihrer bisherigen Position. Sie versuchten, die Lücke
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