Der Blutrichter
hinauf zur Tribüne, und als die Menge erschrocken aufschrie, die Ratsherrn entsetzt zur |533| Seite wichen, ergriff er Greetjes Hand und rannte mit ihr in die Freiheit.
»Greetje, mein Gott, Greetje«, stammelte Hinrik. »Ich fasse es nicht.«
Als Wilham von Cronen zum Bürgermeister gerufen wurde, wähnte er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Drei Tage war es nun her, dass auf seinen Befehl hin einhundertneunundvierzig Freibeuter geköpft worden waren. Dass ihm Hinrik vom Diek entkommen war, empfand er als Niederlage, die seinen Triumph schmälerte.
In Begleitung seines Sohnes Christoph und gefolgt von sechs Dienern stolzierte er durch die Gassen der Stadt zum Rathaus. Die Leute blieben stehen, lächelten ihm bewundernd zu oder applaudierten sogar. Er fühlte sich geschmeichelt, wollte sich jedoch nicht anmerken lassen, wie wichtig ihm diese Art der Verehrung war. Er verwickelte seinen Sohn in ein belangloses Gespräch und blickte hin und wieder auf, um freundlich oder wohlwollend zu grüßen. Christoph dagegen sonnte sich im Ruhm seines Vaters. Er schritt neben ihm her, den Kopf hoch erhoben, und bedachte die Bürger mit herablassenden Blicken.
Ausgesprochen guter Laune betrat Wilham von Cronen das Rathaus und begab sich sofort zu den Räumen des Bürgermeisters. Ein Rathausdiener ließ ihn wissen, dass er allein von Nikolaus Schocke erwartet wurde.
»Es dauert sicherlich nicht lange«, tröstete er seinen enttäuschten Sohn. »Vielleicht will Nikolaus mir vorschlagen, sein Nachfolger zu werden, damit er sich ganz seiner Leidenschaft, der Seefahrt, widmen kann. Das wäre durchaus denkbar. Vor allem würde bei dieser Lösung niemand sein Ansehen verlieren.«
|534| Wilham von Cronen betrat den großen Beratungssaal, in dem der Bürgermeister mit sieben Ratsherren an einem Tisch saß. Er grüßte höflich, wie es geboten war, und nahm auf einem der freien Stühle Platz. Einige Ratsherren fehlten. Zu seinem Unmut waren es vor allem Männer, auf deren Loyalität er gesetzt hatte.
»Wilham, gegen Euch liegen einige schwerwiegende Anklagepunkte vor. Sie sind der Grund dafür, dass wir Euch hierherbestellt haben«, eröffnete Nikolaus Schocke das Gespräch, und erschrocken begriff von Cronen, dass er sich gründlich getäuscht hatte. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er lediglich in eine Richtung gedacht, nicht aber eine Hinwendung zum Schlechten in Betracht gezogen. Er hatte sich für unangreifbar gehalten. Lange Jahre hatte er in aller Heimlichkeit eng mit den Freibeutern zusammengearbeitet. Mit ihrer Hinrichtung glaubte er, alle beseitigt zu haben, die ihm gefährlich werden konnten. Das war offenbar nicht der Fall. »Wir haben zwei Zeugen, die beschwören, dass Ihr Eure Frau Margareta getötet – um genau zu sein – vergiftet habt.«
»Das ist ungeheuerlich«, protestierte Wilham von Cronen. »Wer wagt es, mich in dieser Weise . . .?«
»Zeugen gegen Euch pflegen zu verschwinden und nie wieder aufzutauchen«, unterbrach der Bürgermeister ihn. »Wir haben dafür gesorgt, dass einer Frau namens Spööntje und einem Eurer früheren Diener nichts passieren kann. Sie befinden sich an einem sicheren Ort und können jederzeit gegen Euch aussagen. Ihnen wird es nicht so ergehen wie Jan Terhuusen, dem Ratsherrn Karsten Bartholomaeus oder dem Gaukler Fieten Krai.«
»Ich habe nichts damit zu tun«, behauptete von Cronen erregt. Er war blass geworden. Als viel gefährlicher noch sah er Greetje an. Sie war verschwunden, aber er hielt es für durchaus möglich, dass sie ein schriftliches Zeugnis |535| hinterlegt hatte. Er hatte sie betrogen und belogen. Jetzt musste er ihre Rache fürchten. »Was gehen mich diese Leute an?«
»Das werden wir noch herausfinden«, antwortete Nikolaus Schocke. Er strich sich eine graue Strähne aus der Stirn. »Wir werden nicht lockerlassen. Und wenn es Jahre dauert. Irgendwann führen wir Euch zum Schafott, und dann wird es Euch ergehen wie den Freibeutern.«
Die Tür öffnete sich, und einer der Ratsdiener führte den erwähnten Fieten Krai herein. Der Gaukler war so schwach, dass er sich kaum aufrecht halten konnte. Er sah um Jahre gealtert aus. Seine Wangen waren tief eingefallen, eine schlecht verheilte Narbe verunzierte seinen Hals, und sein rechter Arm hing schlaff an seiner Seite.
Wilham von Cronen erhob sich hastig und nervös.
»Ich bin in Lübeck von Thore Hansen überfallen worden«, berichtete Fieten Krai mit brüchiger Stimme. »Der Däne hat mir gesagt,
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