Der Blutrichter
leugnen, dass sie ihn mochten. Er offenbarte einen ungezügelten sexuellen Appetit, und Knappe Hinrik erlebte es immer wieder, dass er Weiber fand, bei denen er ihn befriedigen konnte. Das geschah auf der Karolingerburg auf der rechten Störseite, bei den Bauern in der Scheune, im Wald und auf den Wiesen, in aller Offenheit oder in einem diskreten Versteck, aber stets war es mit großem Stöhnen und Ächzen verbunden, so dass Hinrik, der fast immer irgendwo in der Nähe war, daran zu zweifeln begann, dass die Liebe ein Vergnügen war, zumal die Frauen dabei japsten und schrien, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. Damit nicht genug der ungewollten Beteiligung des Knappen. Ritter Christian hatte im Anschluss an seine Liebesabenteuer noch eine weitere Aufgabe für ihn, galt es doch, das Stück Schafsdarm zu reinigen und elastisch zu halten, das er sich bei seinen Liebesspielen überstreifte. Nicht selten hielt ihm Christian bei dieser unappetitlichen Arbeit Vorträge, indem er sich über Vor- und Nachteile dieser Methode ausließ und verschiedene Möglichkeiten – etwa mit dem Darm eines Lamms, eines Hirschkalbs oder Rehs – beschrieb, die er alle ausprobiert hatte.
Vier Monate nach dem Tod des Vaters starben binnen dreier Tage Hinriks Mutter Hanna und die drei Schwestern. Der Winter war mit Eiseskälte eingezogen. Die Temperaturen |54| waren so tief gesunken, dass sogar die Stör zufror. Das Eis war so dick, dass man von einem Ufer zum anderen laufen konnte. In dieser Zeit bekamen Hanna und die drei Mädchen Halsschmerzen mit dicken Belägen, die sich nicht entfernen ließen. Der hinzugerufene Arzt ließ alle vier zur Ader, konnte ihnen jedoch nicht helfen. Auch Hinrik bemühte sich vergeblich, bis sie an der Krankheit erstickten.
Der Totengräber bereitete die Beerdigung vor, indem er den frostharten Boden aufbrach und die Gruben aushob. Nachbarn, Freunde und Bekannte trafen sich in dem kleinen Haus, das nun Hinrik gehörte. Sie nahmen Abschied von den aufgebahrten Toten und blieben, um sich beköstigen zu lassen, wie es bei solchen Angelegenheiten Brauch war. Es begann heftig zu schneien, während sich die Gesellschaft noch im Haus aufhielt. Da Bruder Albrecht es nicht eilig hatte und keinerlei Anstalten machte, die Toten zum Gottesacker zu bringen, drängte niemand zum Aufbruch. Plötzlich lag der Schnee mehrere Fuß hoch, und niemand wollte die vier Särge noch zum Gottesacker tragen.
Nun nahmen die vier Särge viel Platz im Haus in Anspruch. So beschlossen die Ritter, die vollzählig erschienen waren, die Särge vor die Tür zu stellen, um Platz zu schaffen. Sie trugen die Kisten hinaus, und da der Platz vor dem Haus äußerst beschränkt war, stellten sie die Särge senkrecht an die Hauswand. Ritter Christian pochte mit einem freundlichen Grunzen an den Sarg Hannas und sagte: »Nimm’s uns nicht übel, altes Mädchen. Du frierst jetzt ohnehin nicht mehr, und ob du hier wartest oder im Grab, ob du stehst, kniest oder liegst, macht keinen großen Unterschied.«
Ritter Peter vom Rhein holte eine Laute hervor und zupfte fröhliche Lieder, zu der die angeheiterte Gesellschaft schließlich zu singen und zu tanzen begann. Es |55| wurde eine lange Nacht, die erst endete, als kein Brotkrümel, kein Tropfen Bier und auch nicht die dünnste Scheibe Schinken mehr im Haus war.
Am nächsten Tag schleppte Hinrik die Särge allein zum Gottesacker. Als er alle vier in die Gruben versenkt hatte, fand sich ein Mönch ein, der ein paar würdevolle Worte zum Abschied sprach. Der Junge hörte kaum noch hin. Sein Hals tat weh. Er verspürte das bedrohliche Kratzen im Rachen, mit dem bei seiner Mutter und seinen Schwestern alles begonnen hatte.
Als er am Tag darauf zusammenbrach und kaum noch atmen konnte, weigerte sich der Arzt, ihn zu behandeln, da er zu Recht vermutete, Hinrik könnte ihn nicht bezahlen. Die Heilerin Spööntje aber war zufällig in die Stadt gekommen, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Sie machte einen Schnitt in seine Luftröhre, um ihm das Atmen zu erleichtern, und verabreichte ihm ein Gebräu aus verschiedenen Kräutern. Zehn Tage später war Hinrik gesund und konnte seine Arbeit als Knappe des Ritters Christian wieder aufnehmen.
Der Mönch musterte ihn lange und eindringlich, bis er schließlich sagte: »Er ist dreizehn Jahre alt. Viel zu alt, um noch etwas zu lernen.«
»Unsinn«, widersprach Ritter Christian. »Er mag alt sein, aber er ist aufgeweckt. Ihr werdet schon sehen. Er
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