Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
Vom Netzwerk:
Lederrücken und der goldenen Prägung darauf unglaublich kostbar. Wahre Schätze, deren Anblick bei weitem das übertraf, was er erwartet hatte.
    Wie mochte es erst in Klöstern aussehen, in denen sich Hunderte von Büchern befanden? Insgeheim kam er zu dem Schluss, dass es sich bei der Schilderung dieser Klöster um die üblichen Übertreibungen handeln musste. Es gab eben immer jemanden, der die Wahrheit nicht aufregend genug fand und daher noch einige Ausschmückungen hinzufügte, die von anderen übernommen wurden. Und irgendwann gab es wieder jemanden, der diesen Bericht für nicht ausreichend interessant hielt und ihn daher weiter ergänzte.
    Was die Klöster und die vielen Bücher anging, so war es bestimmt nicht anders.
    Franz blickte nicht auf, sondern wies stumm auf eine Bank, um ihnen zu bedeuten, Platz zu nehmen. Dann begann er mit einem Vortrag über die lateinische Sprache, die es zu erlernen galt, da die meisten Texte in den Büchern in eben dieser Sprache verfasst waren und ausschließlich jenen zugänglich waren, die sich mit Latein befassten. Hinrik hatte keine Ahnung, wovon Franz sprach, hörte jedoch konzentriert zu. Dennoch begann er zu stottern, als Franz ihm kurz darauf eine Frage stellte.
    Felix lachte laut. »Er ist ein Dummkopf«, lästerte er. |59| »Viel zu alt, um noch etwas lernen zu können, und dazu der Sohn eines Halunken.«
    Hinrik richtete sich auf. Das Blut schoss in seinen Kopf, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Wütend fixierte er den Jungen neben sich, der niederträchtig grinste.
    »Wenn ihr euch prügeln wollt, dann auf keinen Fall hier in der Bibliothek«, murmelte Franz, ohne von seinem Buch aufzusehen. Obwohl er kurzsichtig war, schien ihm nichts von dem zu entgehen, was um ihn herum geschah.
    »Er hat meinen Vater beleidigt, einen ehrenwerten Ritter«, beschwerte Hinrik sich.
    »Draußen«, forderte Franz. »Nicht hier. Und jetzt zum Unterricht.«
    Endlich hob er den Kopf und musterte den neuen Schüler von oben bis unten. »Schlagen kannst du dich auf der Burg bei den Rittern. Hier herrscht Friede. Hier wird gelernt. Der Geist zählt, nicht die Faust. Wenn du das nicht beherzigst, ist deine Lehre hier beendet, bevor sie begonnen hat. Selbstbeherrschung ist eine Tugend, die sich ein Ritter zu eigen machen muss. Provokation ist der Feind der Selbstbeherrschung. Es liegt an dir, wer gewinnt.«
    Hinrik beachtete Felix in den nächsten Stunden nicht mehr. Er tat, als wäre er nicht vorhanden, eine Reaktion, die den anderen spürbar ärgerte. Er konzentrierte sich ganz auf den Unterricht, und dabei erfuhr er, dass es neben den Griechen die Römer gegeben hatte, die mit ihrer Kultur die Grundlagen für die abendländische Kultur geschaffen hatten. Er atmete insgeheim auf, als Franz erklärte, dass fast alle Bücher in lateinischer Sprache, nicht aber in griechischer Sprache geschrieben worden seien, so dass es ihm erspart blieb, auch noch diese zu erlernen.
    Nach dem ersten Tag war er vollkommen erschöpft. Als er das Kloster verließ, um zur Burg zu gehen, kam ihm |60| Hans Barg entgegen, ein Arzt, der wenige Häuser von dem Haus seiner Eltern entfernt wohnte. Er war nicht in der Stadt gewesen, als seine Eltern und Geschwister erkrankt waren, aber Hinrik glaubte ohnehin nicht daran, dass er hätte helfen können. Hans Barg war ein kleiner freundlicher Mann, der Sympathien zu gewinnen wusste.
    »Ich habe von deinem Verlust gehört.« Er blieb stehen und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm sein Beileid auszudrücken. »Sehr bedauerlich. In so einem Fall sind der ärztlichen Kunst Grenzen gesetzt. Du kannst von Glück sagen, dass du überlebt hast.«
    »Danke.« Hinrik kannte nicht nur den Arzt, sondern vor allem seine Tochter Greetje, mit der er früher oft am Fluss gespielt hatte. Sie war ein fröhliches, unbeschwertes Mädchen, und er hatte gern Zeit mit ihr verbracht. Doch das war lange her. Schon seit Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen. Oft hatte er an sie gedacht, dabei wusste er noch nicht einmal, ob er sie wiedererkennen würde, sollte er ihr begegnen.
    »Du bist jetzt Knappe und auf der Burg untergekommen«, fuhr der Arzt fort. »Sicherlich hast du es sehr schwer. Die Bauern werden sich weigern, einem Jungen in deinem Alter den Pachtzins zu bezahlen. Was wird aus dem Haus?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete Hinrik. Der Arzt legte ihm den Arm um die Schulter und begleitete ihn auf seinem Weg zur Burg. Hinrik empfand die Berührung als etwas Tröstliches.

Weitere Kostenlose Bücher