Der Blutrichter
verpachtet hatte. Es war viel Zeit vergangen, seit er so viel Geld mitgebracht hatte, dass er davon das kleine Landgut und dazu ein Haus in der Stadt kaufen konnte. In den letzten Jahren hatte er immer weniger Geld nach Hause gebracht, und die Familie konnte – in aller Bescheidenheit – kaum länger als ein paar Monate davon leben. |51| Das meiste Geld gab er für Bier und Met und die üppigen Speisen aus, die er im Kreise anderer Ritter genoss. Ihnen berichtete er gern und ausführlich von jenen glorreichen Zeiten, in denen es noch möglich gewesen war, im ehrenvollen Kampf Reichtümer zu erwerben. Inzwischen brachte sein Status als Ritter nicht mehr viel ein. Er arbeitete ebenso wenig wie die anderen Ritter, übte sich vielmehr im Kampf, stärkte sich, indem er in seiner schweren Ritterrüstung Geländeläufe absolvierte, und verbesserte seine Fähigkeiten beim Reiten. Denn auf all das kam es in der Schlacht an, wenn er sich auf seinem Pferd ins Getümmel stürzte, um als mächtiger Kämpfer Angst und Schrecken zu verbreiten und möglichst viele Feinde zu töten. Es galt, sich auch unter widrigen Umständen auf dem Rücken des Pferdes zu halten. Der Arm, mit dem er das Schwert führte, durfte nicht erlahmen, weil das seinen baldigen Tod bedeutet hätte.
»Der Bronzene hat mir aufgelauert und von hinten auf mich geschossen. Es gibt keine Männer der Ehre mehr. Nur noch feige Wegelagerer.«
»Ich hole Spööntje«, sagte der Junge, doch der Vater griff nach seinem Arm und hielt ihn fest.
»Zu spät, mein Kleiner«, entgegnete er mit schwacher Stimme. Seine Hand sank auf den Boden. »Sie kann mir nicht mehr helfen. Ich will, dass du mir zuhörst.«
»Ja, Vater, ja.« Hinrik schossen Tränen in die Augen, und er konnte kaum noch sprechen. Wenn der Vater starb, lag es bei ihm, für die Familie zu sorgen. Aber wie sollte er das schaffen? Ihnen blieb nur, von der geringen Pacht zu leben, die sie von den Bauern erhielten.
»Du bist ritterbürtig wie ich. Deshalb will ich, dass du Ritter wirst wie ich. Du wirst dich Christian als Knappe andienen . . .« Die Stimme wurde so leise, dass Hinrik ihn kaum noch verstand, und schließlich versiegte sie ganz. |52| Plötzlich erschien wie aus dem Nichts Spööntje neben ihm. Sie untersuchte den Verletzten, schüttelte den Kopf und strich Hinrik tröstend über die Schulter.
»Wenn du ihn noch mal umarmen willst, dann jetzt«, empfahl sie ihm. »Es dauert nicht mehr lange, und er ist kalt. Dann spürt er es nicht mehr. Gib ihm ein wenig Liebe und Wärme mit auf den letzten Weg.«
Weinend ließ sich der Junge über seinen sterbenden Vater fallen, der noch einmal die Augen öffnete und ihm ein letztes Lächeln schenkte.
»Die Zeit der ehrenvollen Männer ist vorbei . . .«, hauchte er. Dann war es um ihn geschehen.
An der Beerdigung nahm die halbe Stadt teil. Großzügig legten die Ritter zusammen und kamen für die Kosten auf. Hinriks Mutter wäre nicht in der Lage gewesen, die vielen Gäste zu beköstigen. Sie hatte kaum genug Geld, Hinrik und seine drei jüngeren Schwestern satt zu bekommen. Noch am Tage der Bestattung sprach der Junge den Ritter Christian an, einen wüsten Rotschopf, der geradezu ungeheuerliche Mengen an Bier in sich hineinschüttete.
»Wir haben das alles besprochen, Junge«, sagte der Ritter und starrte ihn mit verschleiertem Blick an, als hätte er ihn nie zuvor gesehen. »Eigentlich ist es viel zu spät für dich. Mit sieben Jahren hättest du in meinen Dienst treten müssen, um mit elf oder zwölf Knappe zu werden. Leider habe ich es deinem Vater versprochen. Vielleicht wird ja noch ein Ritter aus dir. Wir werden sehen. Wir fangen gleich an mit der Ausbildung. Hol mir einen Krug Bier.«
Es war der unerfreuliche Anfang einer harten und entbehrungsreichen Lehre, an deren Ende er zum Ritter geschlagen wurde. In dieser Zeit geschah ungeheuer viel. Hinrik lernte alles über Pferde und über Waffen wie Schwert und Armbrust, Lanze und Dolch. Deren Herstellung |53| und Anwendung hatten sich zu einer hohen Kunst entwickelt. Der rote Christian war ein Säufer, er war brutal und primitiv. Wo immer es ihm gefiel, verkündete er, dass kein Weib vor ihm sicher war, das nicht binnen drei Sekunden auf einem Baum saß, sobald er erschien. Später machte er Witze über sein Alter und gab den Weibern ein paar Sekunden mehr, sich in Sicherheit zu bringen. Hinrik fand es erstaunlich, dass die Frauen an diesem derben Mann Gefallen hatten. Es war jedoch nicht zu
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